Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Europas zu teilen, war ihnen Tembleque der liebste Kollege. Seine Stimme von zu vielen Gläsern Sol y sombra stumpf geworden, auf dem Armaturenbrett ein Votivbildchen von El Rocío und am Rückspiegel ein Fähnchen von Betis Sevilla, ermüdete er sie oft mit dem Schicksalsschlag, der seiner Torerokarriere ihr frühes Ende gesetzt hatte. Führte die Umzugsroute unglücklicherweise an der Plaça Monumental vorbei, haute er mit fanatischer Wucht auf die Hupe des DKW. Und es folgte ein ausschweifender Monolog über jenen Augustnachmittag im Jahr 1948, an dem er in der Arena von Linares hatte einspringen dürfen. Genau ein Jahr zuvor war der große Manolete gestorben, hatte er ihnen das schon einmal erzählt? Sein Ruhm, fuhr er mit leuchtenden Augen fort, währte genau acht Minuten und etwa zwanzig Tuchschwünge, von denen ein jeder das Publikum zu einem begeisterten ¡Olé! hinriss. Doch eine beispiellos heimtückische Attacke des Tiers ruinierte ihm seine Berufung ein für alle Mal.
»D’Artañán, so hieß er, der verfluchte Bulle«, sagte er an diesem Punkt seiner Erzählung jedes Mal, und dann übermannte ihn Müdigkeit. »Ich war kein Feigling, das ist ja klar. Aber manchmal denke ich, es wäre besser, ich wäre damals draufgegangen. Könnte es eine höhere Ehre für einen Torero geben, als in derselben Arena zu sterben wie der große Manolete?«
Der einzige Trost, der ihm blieb, seine einzige Möglichkeit der Wiedergutmachung, bestand darin, dass man ihn jedes Jahr im Juni, wenn in seinem Viertel das Stadtteilfest gefeiert wurde, gegen eine besonders heißblütige Vaquilla antreten ließ. Die Leute vom Nachbarschaftsverein legten auf einer Brache am Ufer des Besòs einen Kreis aus Flusssteinen an, streuten ein paar Säcke Sand aus und improvisierten so für einen Abend einen Kampfplatz. Daneben wurde ein Imbissstand aufgebaut, und er blieb die ganze Nacht hindurch geöffnet, im Glanz einer bunten Lichterkette, die eigentlich zum Weihnachtsbaum des Viertels gehörte. Obwohl die Corrida in Linares schon mehr als zehn Jahre zurücklag, führte Tembleque sie jedes Mal als Rechtfertigung dafür an, dass er ganz oben auf dem Plakat stehen musste. Und um alle Zweifel auszuräumen, erschien er auf dem Platz sogar in demselben Anzug, den er damals getragen hatte. Für die Nachwuchs-Stierkämpfer aus dem Stadtteil war er eine Legende. Er zwängte sich mit derselben Entschlossenheit wie beim ersten Mal in die eng sitzende Uniform, allerdings waren die Farben mit den Jahren verblichen, und der Strass blitzte nicht mehr wie früher, so gründlich Tembleques Frau ihn auch polierte. »Die Sonne von Andalusien gibt’s halt sonst nirgends!«, rief er zu seiner Entschuldigung. Es hieß, er gebe, wenn er mit dem Kalb umspringe, nach wie vor einen eleganten Torero ab, doch am meisten beeindruckte es seine Zuschauer, vor allem die Kinder, dass in seiner Hose immer noch das Loch von jenem unseligen Hörnerstoß klaffte. Aus Aberglauben hatte Tembleque nie zugelassen, dass es gestopft wurde, und wenn Bewunderer oder Freunde es sich aus der Nähe ansahen, manchmal gar darum baten, es zu berühren (was er gern gestattete), so entdeckten sie auf der Haut darunter einen Teil von einer furchteinflößenden Narbe. Die meisten bekreuzigten sich bei dem Anblick und stießen ein »Gott sei uns gnädig« hervor.
Ein halbes Leben lang ging es so für Tembleque. Doch als der Klub der Stierkampffreunde von Sant Adrià an Bedeutung verlor und der Nachbarschaftsverein sein eigenes Häuschen auf der Feria de Abril in Barberà del Vallès erhielt, fühlte Tembleque sich missachtet, hängte das Torerojäckchen endgültig an den Haken und schloss sich, vom katalanistischen Fieber erfasst, der frisch gegründeten Casteller -Truppe aus dem Viertel an. Sie hatten ihm zugesichert, dass er bei den Menschentürmen, die sie errichteten, zumindest Teil der dritten Etage sein werde.
In den vielen gemeinsamen Stunden im DKW waren Gabriel und Bundó zu Experten für die unglückliche Biografie Tembleques geworden. Der Stier D’Artañán hatte die Ausmaße und die Macht einer Höllenbestie angenommen. Und in der Welt des Stierkampfs wimmelte es von einflussreichen Herren, die ihn, Tembleque, dauernd beknieten, er solle doch die beschissenen Umzugsfahrten sein lassen und ins Rund zurückkehren, wie es einem echten Manne gezieme. Die beiden Freunde hatten gelernt, dass der Fluss der Krokodilstränen sich nur durch ein Glas Sol y sombra, oder zwei Gläser, stoppen
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