Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Augenblick begeisterte diese Mitteilung sie weit weniger als die vermeintliche schlechte Nachricht, denn sie hatten die Armee immer als die beste Gelegenheit betrachtet, aus den Llars wegzukommen. Aber binnen einer Minute wurden sie sich über die neuen Aussichten klar. Das Leben, das jenseits dieser Gefängnismauern auf sie wartete, wirkte mit einem Mal noch ungleich verlockender, als sie es sich je erhofft hatten. Sie konnten sich einen Jubelschrei nicht verkneifen und brachen in unbändiges Gelächter aus. Mitten in diesem Taumel trat Bundó an Schwester Elvira heran und küsste sie auf beide Wangen. Sie wehrte sich mit einem harmlosen Schubser – »Lass das!« – und errötete. Gabriel konnte sich in letzter Sekunde davon abhalten, seinem Freund nachzueifern. Er ruderte mit den Armen und beugte dann nur liebevoll die Knie vor der Oberin. Wir können nicht ausschließen, dass ihm plötzlich die erotische Geschichte um Schwester Mercedes wieder in den Sinn gekommen war.
Die Konsterniertheit, mit der die Oberin ihre Haube zurechtrückte und die nicht vorhandenen Runzeln auf ihrem Habit glatt strich, war aufgesetzt, denn insgeheim gefielen ihr derartige Vertraulichkeiten. Sie sah sich verpflichtet, die Euphorie zu ersticken.
»Ihr solltet Gott und Herrn Casellas – in dieser Reihenfolge – ewig dankbar sein für das, was sie für euch getan haben.« Damit ihre Worte noch ernster klangen, hatte sie vom Katalanischen ins Spanische gewechselt. »Es trifft allerdings nicht ganz zu, dass ihr um den Militärdienst herumkommt. Ihr tretet gleichsam in die Truppe von Mudanzas La Ibérica ein, und ich erwarte von euch, dass ihr Herrn Casellas ebenso treu dient wie unsere Soldaten dem Vaterland und dem Generalísimo.«
Erst wenige Monate zuvor hatte Franco die Prinzipien der Nationalen Bewegung vorgelegt, in denen es hieß, Spanien sei eine »universelle Schicksalseinheit«, und die Oberin hatte sie auswendig gelernt. Verständig nickten die beiden Jungen zu ihren Worten. Dabei malte Gabriel in Gedanken einen dünnen Schnurrbart ins bleiche Gesicht der Nonne und stellte fest, dass sie und Herr Casellas sich so ähnlich sahen wie zwei Wassertropfen.
Und nun, mit Verlaub, wollen wir die Türen der Casa de la Caritat und der Llars Mundet ein für alle Mal schließen.
5
E IN H AUS IN DER R ONDA DE S ANT A NTONI
Das Schicksal, verspielt und gewissenlos wie ein Hundewelpe, verschlug Gabriel und Bundó in eine billige Pension. Jedes Mal, wenn es für einen jungen Menschen an der Zeit war, das Heim zu verlassen, forschten die Ordensschwestern nach, ob es nicht irgendwo zumindest einen entfernten Verwandten gab, dem man die Verantwortung übertragen konnte. Aber im Fall der beiden Freunde war lange bekannt, dass sich niemand finden würde. Also legte man ihnen nahe, sich in irgendeiner preisgünstigen, aber bitte anständigen Herberge einzumieten. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Dem Rat von Opa Cuniller folgend, der sein halbes Leben als Pensionsmieter verbracht hatte, entschieden sie sich für ein Zweibettzimmer in einem Haus in der Ronda de Sant Antoni. Das Gebäude lag an der Ecke zum Carrer de Sant Gil, nur ein paar Schritte vom Markt entfernt, aber der Hauptgrund, weshalb sie dorthin wollten, war die Nähe zur Casa de la Caritat. Sie mussten bloß ein Stück in den Carrer Ferlandina hineinlaufen, und schon standen sie vor einem der Eingänge der Casa, jenem, der auf den Hof Nadal i Dou ging. Natürlich hatten sie keineswegs vor, dem alten Waisenhaus Besuche abzustatten (vor allem Gabriel nicht, der mit dem schlechten Gewissen eines Deserteurs aus der Druckerei geflüchtet war), doch es fühlte sich an wie eine Rückkehr in ihr eigenes Stadtviertel. Die Zeit ihrer Verbannung in die abgelegenen Llars war damit abgehakt, und sie konnten ein jahrelang unterdrücktes Gelüst endlich ausleben. Schon beim Gedanken daran stieg ihnen der süßsaure Duft zu Kopf, den die Straßen des Barri Xino verströmten, wenn es dunkel wurde. Sie brannten darauf, sich in den verrufensten Winkeln zu tummeln, und nun, da sie nicht mehr unter der Fuchtel der Nonnen standen, würde nichts sie davon abhalten, all die Verlockungen auszukosten, die sie sich so oft ausgemalt hatten.
Damals, im Herbst 1958, verkörperte die Pension den Grenzcharakter dieses Teils von Barcelona: auf der einen Seite die engen Gassen des Xino, auf der anderen die Ronda de Sant Antoni, die dagegen fast wie ein Pariser Boulevard wirkte. Zwar nahm die Wohnung die
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