Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Carolina oder, wenn ihr wollt, Muriel. Aber dieses Thema will ich hier nicht in drei Sätzen abhandeln, es ist zu wichtig, und zwar für uns alle. Wir können dem gerne ausführlich nachgehen, doch bitte nicht jetzt.
Was Gabriel betrifft, muss ich euch enttäuschen: Ich habe nie wirklich verstanden, was ihn faszinierte an den Momenten, wenn wir wieder einen neuen Klingelknopf drückten. Ich habe da bloß eine vage Vorstellung, die ich mir aus meinen Eindrücken zusammenreime. Was ihn erregte, waren jedenfalls nicht solche fleischlichen Begierden wie bei Bundó und mir. Ich sehe Gabriel eher als einen Vampir. Er trat in die Häuser anderer Leute ein und saugte die Atmosphäre auf – diese Gegenwart eines bestimmten Lebens, die sich in einer Wohnung unmittelbar vor dem Umzug noch deutlich spüren lässt: Gerüche, Schatten, Gelächter, eine Kälte, ein Schweigen … Vielleicht wollte er deshalb immer als Erstes jemanden kennenlernen, der in dem Haus gelebt hatte – um seine Mutmaßungen nicht ganz ins Blaue hinein anzustellen. Wenn er sich dann ein Möbelstück auf den Rücken lud, schien er zugleich die Spuren zu studieren, die dieses Stück im Raum hinterlassen hatte. Er zog Rollläden hoch, öffnete Fenster mit der Begründung, dass er mehr Licht brauche, und er zündete sich eine Zigarette an, um beim Rauchen auf die Straße hinunterzublicken und die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Und als gehörte das zu unserer Arbeit, ließ er die Person, die uns überwachte, an seinen Gedanken teilhaben. »Dieses Sofa muss ja ganz wunderbar für den Mittagsschlaf gewesen sein, oder, Señora?«, »Sicher hat in diesem schönen Wintergärtchen sonntags oft die ganze Familie gemeinsam gefrühstückt.« Es ist nur, was ich mir so denke, aber ich würde sagen, diese Fantasien über den Alltag anderer Leute – mit denen er übrigens von Neuem begann, wenn wir mit den Möbeln in der neuen Wohnung ankamen, als wäre das eine weiße Leinwand, die er zu bemalen hätte –, diese Fantasien ließen ihn freier atmen. Er saugte sie auf und nahm sie als kleines Lebenselixier mit, wenn er in die doch eher ärmliche Pension zurückkehrte. Ein Beweis dafür, dass da ein Zusammenhang besteht: Als er eure Mutter – eure Mütter – kennengelernt hatte, ihr geboren wart und er zumindest in kleinen Dosen selbst vom Familienleben gekostet hatte, da verlor er nach und nach das Interesse an den leeren Häusern, und all die Umzugsfahrten waren für ihn bloß noch Gelegenheiten, um in eure Nähe zu kommen und euch zu besuchen.
Anfang der Siebzigerjahre war es, glaube ich, da war Bundó gerade in die Wohnung in der Via Favència gezogen, und euch drei gab es bereits – es fehlte nur noch Cristòfol in Barcelona, wenn ich mich nicht täusche; damals habe ich Gabriel immer mal wieder beiseitegenommen und ihn gelöchert, wann er denn endlich die Pension verlassen und mit euch zusammenziehen würde. Ich sagte ihm, er müsse mir den Gefallen tun, sein Leben zu ändern und vielleicht eben auch das Land zu wechseln.
»Ich wüsste nicht, wie das geht«, antwortete er mir. »Im Waisenhaus haben sie mir beigebracht, auf diese Weise zu leben: ganz allein und zugleich umgeben von Menschen. Außerdem, falls ich mich eines Tages wirklich ändern und sesshaft werden wollte, für welche Familie sollte ich mich dann entscheiden?«
Von der Frage bekam ich Gänsehaut.
Nummer 104. Barcelona–Manchester. 10. September 1967.
Eine Holzkiste, schon alt, aber noch mit Deckel. Es war mal französischer Wein darin, das verrieten uns das halb abgerissene Etikett (Château sonst was) und der Geruch beim Öffnen. Es gab drei solcher Kisten, wir haben diese ausgewählt. Sie enthält mehrere Badezimmerartikel, wobei alles darauf hindeutet, dass es sich um ein Sommerhaus handelte. Petroli bekommt die Bürsten und Kämme, in denen blonde wellige Haare der Hausherrin festhängen, einen fast aufgebrauchten Lippenstift und ein Femme-fatale-Mascara. Vielleicht hat er Gelüste, sich in seiner Freizeit als Transvestit im Xino zu versuchen. (Diesen letzten Satz hat jemand, vermutlich Petroli, mit rotem Lippenstift durchgestrichen.) Wir schenken ihm außerdem ein Fläschchen englisches Aftershave, das einen intensiv männlichen Geruch verströmt. Zwei Flakons mit französischem Damenparfum, wahrscheinlich sehr teuer, gehen an Carolina, via Bundó. Im Übrigen glaubt niemand, dass Bundó dies nicht bewusst eingefädelt hat. (Am Seitenrand eine Rotstiftanmerkung in Bundós Schrift:
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