Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
in ihrem Zimmer saßen sie auf dem Bett und dachten sich zusammen eine Geschichte aus, die für die Eltern glaubhaft genug sein müsste. An dieser Übung hatten sie eine ganze Weile lang Spaß. Carolinas praktische Fantasie und Bundós versponnene Eingebungen ergänzten sich bestens. Es wurde spät, sehr spät. Er gähnte, und sie sagte, wenn er wolle, könne er bei ihr übernachten. Als Freund.
Am Morgen, bevor er den Rückweg nach Barcelona antrat, machte Bundó ihr das erste Geschenk: ein silberfarbenes Schultertuch (Nummer 66, Barcelona–Köln).
Am Montag kam er zu spät zur Arbeit und war furchtbar erkältet. An einem der nächsten Tage besuchte er nach Feierabend Carolinas Eltern. Er stellte sich als ein Bekannter ihrer Tochter vor und überreichte ihnen den Umschlag mit dem Geld. Beim Lesen des Briefs, der sich außerdem darin befand, begann die Mutter zu weinen. Der Vater stieß einen verwunderten Pfiff aus, als ihm Bundó den Betrag in Peseten umrechnete. Dann baten sie ihn an den Esstisch, gossen ihm ein Glas Wein ein und begannen ihn mit Fragen zu löchern. Besonders beeindruckend fanden sie, dass ihre Tochter, die nun als Sekretärin für ein Unternehmen im Obstexportsektor arbeitete, in so kurzer Zeit Französisch gelernt hatte.
Zu ähnlichen Szenen kam es dann jedes Mal, wenn das La-Ibérica-Schicksal Bundó wieder in den Umkreis des Bordells verschlagen hatte. Die Zurückhaltung, mit der ihn die Eltern beim ersten Besuch empfingen, verwandelte sich in unverbrüchliches Vertrauen, und Bundó wurde zu Carolinas offiziellem Biografen. Sie hatten abgesprochen, dass er mit genauen Daten nur tröpfchenweise herausrückte. Je weniger Einzelheiten, desto besser. Bald aber war ein Punkt erreicht, von dem an sich der Bote, weil die Eltern Neuigkeiten verlangten und Carolina die Geisel Muriels blieb, gezwungen sah, ihr selbst ein Leben zu erfinden. Vorlieben, Abneigungen, Freundschaften, Pläne. Bei jedem Besuch fügte er ein neues Kapitel »Carolina in Frankreich« hinzu. Solange er sie damit nicht in zu große Verlegenheit brachte, konnte er seiner Fantasie freien Lauf lassen. Doch irgendwann kam Carolina selbst nicht mehr hinterher, und wenn sie mit ihren Eltern zum Geburtstag oder zu Weihnachten telefonierte, wurde sie von mancher Nachfrage kalt erwischt und musste ihre eigene Verwirrung überspielen. Gleich darauf rief sie empört – und verspielt – Bundó in der Pension an und schimpfte los: was ihm denn einfalle, wie er es wagen könne, zu behaupten, ihre beste Freundin heiße Muriel, oder dass man sie vielleicht nach Paris versetzen würde? Ach, und sie habe nun also einen französischen Bräutigam? Wie sehe der denn aus, dieser französische Bräutigam? Etwa so wie er, Bundó?
Wir wissen, dass Bundó diese Wutausbrüche Carolinas zu gleichen Teilen erlitt und genoss. Es war 1967, sie trafen sich seit über einem Jahr, und ihre Beziehung war in eine neue Phase eingetreten. Er hatte es sich abgewöhnt, zu anderen Huren zu gehen. Infolge dieser Abstinenz machten die Transporter von La Ibérica öfter als früher an der Landstraße von Lyon nach Saint-Étienne halt. Während er mit Muriel oben war, warteten Gabriel und Petroli in der Cafeteria der Tankstelle, aßen Croque Monsieur, wie Bundó ihnen empfohlen hatte, und ersannen eine Ausrede für Herrn Casellas, die ihre Verspätung rechtfertigen würde. Carolina hatte indessen begonnen, Bundós Erfindungen auch in Muriels Leben einzuflechten. Wenn ein Kunde zu aufdringlich wurde, wimmelte sie ihn ab, indem sie erklärte, sie mache gerade ihren Abschluss an der Universität Lyon, sei mit einem sehr muskulösen und leicht reizbaren Franzosen liiert, und bald würden sie zusammen nach Paris ziehen.
Mitunter zeigte sich selbst Bundó von dieser Vermischung von Wirklichkeit und Ausgedachtem überfordert. Als er einmal das Glück hatte, die ganze Nacht mit ihr zu verbringen, ging er am Abend mit Muriel ins Bett (und bezahlte dafür, schließlich befand man sich in einem Bordell, und die Madame war wachsam) und wachte am Morgen neben Carolina auf. So gut er diese Doppelidentität inzwischen kannte, konnte sie ihn doch sehr beklommen machen, und als er wieder im Lkw saß, fiel es den beiden Freunden schwer, ihn aufzumuntern. Petroli, der gern Klartext redete, riet ihm, er solle Carolina schleunigst mit nach Barcelona nehmen. Allerdings hatte sie ihm von Beginn an, also schon an jenem Samstag, da er als Freund bei ihr übernachtete, eingeschärft, er dürfe
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