Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sagen?
Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht ist der Moment gekommen, da jeder von uns auf eigene Verantwortung das Wort ergreifen sollte. Christof, mach dich bereit: Du bist als Erster dran, streng nach der biologischen Abfolge.
8
D ER FÜNFTE B RUDER
Christof und Cristoffini sind an der Reihe
»Bevor du irgendwas anderes sagst, solltest du mich um Verzeihung bitten. Und zwar so, dass alle es hören.«
»Dich um Verzeihung bitten? Darf man wissen, wieso?«
»Weil du unsere Brüder nun schon seit Monaten kennst, Christof, und sie mir immer noch nicht vorgestellt hast. Hast mich auf keine eurer ›Recherchereisen‹, wie du in der dir eigenen Pedanterie zu sagen pflegst, eingeladen. Als wäre Gabriel nicht auch mein Vater. Wahrscheinlich hast du ihnen nicht mal von mir erzählt.« Vorwurfsvolle Stille. »Gib es zu, du hast ihnen nicht von mir erzählt. Na?«
»Wir haben jetzt keine Zeit. Begreif doch, das hier ist mein Moment, mein Solo in diesem Konzert, und ich habe viel zu berichten. Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich heute mitgenommen habe.«
»Verstehe. Du lässt mich links liegen und spielst dich die ganze Zeit in den Vordergrund. Wie du willst. Aber dann beschwer dich nachher nicht, wenn ich beleidigt schweige. Du treibst mich in die Empörung und Rebellion. Außerdem bist du doch zu Monologen gar nicht fähig. Wir sind doch immer zusammen aufgetreten.«
»Schon gut, schon gut. Seht her, Christofs: unser Bruder Cristoffini. Geboren in Italien …«
»… in einem kleinen sizilianischen Dorf, im Inselinneren, genauer will ich es nicht sagen. Ich konnte nicht der Lieblingssohn werden, denn den gab es schon, nämlich Vito. Auch dazu will ich nichts weiter sagen. Das bleibt alles in der Familie. Wir haben zwar denselben Vater, Chrisofs, aber ich stamme mütterlicherseits aus einer großen Dynastie, capisci ? Überdies bin ich der Älteste von uns. Der Erbfolger, falls euch das noch nicht klar gewesen ist. Als ihr zur Welt kamt, hatte ich schon jahrelang dieses Pappgerippe, tock-tock-tock (klopft sich an den Kopf), durch die Welt geschleppt, diese diplomatischen Nadelstreifen und diesen Hut, der nie aus der Mode kommen wird. Wenn ich euch jünger vorkomme als ihr selbst, liegt es daran, dass ich unsterblich bin.«
Cristoffini klingt so heiser und asthmatisch, als wären seine Stimmbänder aus Espartogras.
»Ich bin euch wohl eine Erklärung schuldig. Cristoffini und ich treten öfters am Wochenende gemeinsam auf. In Diskotheken, Festsälen, Stadtteiltheatern, wo immer man uns bucht. Wir machen uns über die Regierung und andere Berühmtheiten lustig und bringen die Leute damit zum Lachen. Manchmal fängt Cristoffini an, das Publikum zu beschimpfen, dann muss ich ihm den Mund zuhalten, weil ich weiß, er würde über die Stränge schlagen. Es ist unser Hobby, außerdem verdienen wir uns auf die Weise was dazu.«
»Wisst ihr, wie wir uns nennen? Christof und Cristoffini. Aus Gründen des Wohlklangs lasse ich ihn seinen Namen an die erste Stelle setzen. Er darf das bisschen Geld behalten, ich dafür den ganzen Ruhm. Wie lange machen wir das schon, Jungchen?«
»Seit über fünfzehn Jahren. Unser Debüt hatten wir bei mir im Gymnasium, auf dem Weihnachtsbasar, erinnerst du dich? Mutter kam jedes Mal dahin, Vater nie. Wir beide haben über die Jahre wirklich viel Zeit zusammen verbracht, nicht wahr, Cristoffini?«
Cristoffini legt den Kopf an Christofs Schulter und tut so, als würden die Worte ihn rühren, doch sein maliziöser Blick verrät ihn. Über seine linke Wange zieht sich eine allzu rosafarbene Narbe.
»Ich weiß, du willst mich zum Gespött machen, wie immer.« Christof schüttelt ihn von seiner Schulter ab. »Manchmal glaube ich, du erkennst gar nicht den Unterschied zwischen Fiktion und Realität. Es ist eine Sache, ob du den Zyniker spielst, wenn wir auf der Bühne stehen; das kannst du meinetwegen gerne machen. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn du dich der Familie gegenüber so benimmst. Gewiss verstehen meine Brüder … unsere Brüder mich richtig, wenn ich sage, wir haben viel Zeit zusammen verbracht. Ihr Christofs: Ich meine diese plötzliche Schwere, die uns befallen konnte, als wir klein waren. Also mit zwölf, dreizehn Jahren. Wir haben doch mal darüber gesprochen, oder? Du kamst von der Schule zurück, im Winter, und warst allein zu Hause, weil die Mutter arbeitete und vom Vater keiner was wusste. Du sahst dich im Flur im Spiegel, während du dir den Schal und die
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