Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sie war imstande, diese Albtraumüberfahrt in ein lustiges Abenteuer zu verwandeln. Auf der Suche nach weiteren Patienten kreuzte ihr Blick seinen. Beide verharrten einen Augenblick, dann wandten sie sich rasch wieder ab, als befürchteten sie einen Kurzschluss. Sarah stellte sich in der Mitte des Raums auf und rief so laut wie eine Fischverkäuferin auf dem Markt: »Die letzten Tabletten! Die letzten Tabletten! Gleich sind sie aus! Gratis! Schluss mit seekrank! Wer es sich noch überlegt und eine will, findet mich im Krankenzimmer … Free! They are free !«
Die vier Kartenspieler achteten scheinbar nicht auf das Geschrei und konzentrierten sich auf ihr neues Blatt. Doch Bundó überlegte, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Ibrahim rechnete sich aus, dass eine Dose von den Pillen reichen dürfte, um Sans Merci zu beruhigen.
Beim ersten Bieten versuchte Monsieur Champion wieder zu bluffen, seine Zähne schimmerten wie die Gischt auf der stürmischen See. Die Einsätze wurden gemacht, und dann reichte Gabriel ein schlichtes Bubenpaar, um ihn auffliegen zu lassen. Eine lächerliche Situation. Eine Runde später waren der Franzose und sein Bursche völlig blank. Gabriels Gedanken wanderten ins Krankenzimmer und trafen dort auf Sarah, die ihm obszöne Gesten machte.
»Mir scheint, wir sind bald in Dover«, sagte er. »Vielleicht sollten wir hier abbrechen, was meinen Sie, Monsieur?«
Der Blick, den ihm darauf der Franzose zuwarf, hätte selbst Captain Ahab umgehauen.
Das Unwetter hatte die Zeitwahrnehmung auf der Fähre verändert. Das Auf und Ab der Wogen, die Peitschenhiebe des Meeres, das Pladdern des Regens, die Übelkeit und die Langeweile wirkten in einer Weise zusammen, dass die Minuten nicht gleichmäßig verstrichen, sondern stoßweise. Vielen Passagieren kam die Reise wie eine Achterbahnfahrt vor. Unsere Kartenspieler saßen geschützt in ihrer Blase aus Rauch und Rechnerei. Und eingehüllt in die LSD-Wirkung wandelten Anna, Ludovic und Raymond im Schneckentempo durch das Schiff. Eine halbe Stunde hatten sie für die etwa hundert Meter von der Bar zu ihrem Ziel gebraucht. Der Weg über die Flure und durch die Türen war zu einer Dschungelexpedition geworden. Anna hatte gesehen, wie ihr unter den nackten Füßen der Rasen spross, grün, samtig und frisch, wie aus den Wänden und gusseisernen Treppengeländern dichtes Gezweig zu wuchern begann, wie Lianen und undurchdringliches Efeu die Gänge blockierten. Vor ihr schwang Ludovic eine Machete und schlug eine Schneise in das Grün, hinter ihr hielt Raymond die wilden Tiere in Schach. Sie gingen im Gänsemarsch und hielten immer wieder an, um dem fernen Geschrei der Affen zu lauschen oder den Vogelgesängen aus den Tiefen des Waldes. Manche Vögel versuchten sich an Songs der Beatles und unterhielten sie damit so lange, bis ihnen ein weißes Einhorn in den Weg trat und ihnen ein winziges rundes Geheimnis überreichte. Das hatten sie schnell hinuntergeschluckt, ehe jemand etwas merken konnte (bleich und verwirrt, wie sie aussahen, hatte Sarah ihnen die Tabletten aufgezwungen). Und nun waren sie, dank des Wissens, das jenes Geheimnis ihnen ins Gehirn gepflanzt hatte, ganz ohne Schwierigkeiten vor das Tor des Tempels gelangt. Nun gut, eine Schlange hatte Raymond einen Arm abgebissen, aber ihm blieben ja noch fünf weitere.
An der Tür zum Parkdeck hing ein Schild, das untersagte, sie während der Überfahrt zu öffnen. Für Annas Augen verwandelten sich die Buchstaben in das Flachrelief einer rechten Handfläche. Sie legte ihre eigene darauf, stellte fest, dass sie genau passte, und wundersamerweise tat sich die Tür auf. Die beiden Brüder applaudierten. Hinter der Schwelle erwartete sie ein ganz anderes Land. Während sie die Treppe hinabstiegen, trocknete das Gras aus, und die Stufen wurden zu Sanddünen. Ein salziger Seegeruch stieg ihnen in die Nasen, und sie fanden, dass diese Unterwelt ziemlich stickig war. Am Fuß der Treppe angelangt, störten die Kleider sie so sehr, dass sie sich ohne falsche Scham nackt auszogen. Von fern hörten sie das rhythmische Plätschern der Wellen am Strand, und ihre Körper verlangten nach Wasser. Ungezwungen liefen sie zwischen den abgestellten Autos und Lastwagen umher, die ihnen als riesige Felsblöcke erschienen. Hin und wieder blitzte ein Sonnenstrahl in einem der Rückspiegel auf und bestätigte ihnen, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Ihre Füße versanken im Sand. Es kostete sie eine gute
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