Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
verstand, ignorierte Gabriel ihn und schlingerte weiter in Richtung der WCs. Als er sich das letzte Mal nach Anna umgeschaut hatte, er konnte nicht sagen, wie lange es her war, hatte er sie bei den zwei Langhaarigen mit der Gitarre gesehen. Nun lagen unter der Treppe noch deren Rucksäcke, aber sie selbst waren verschwunden, alle drei. Der Gedanke an seine Pflicht in der Pokerrunde erstickte eine böse Vorahnung.
Als er wieder auf den Gang trat, mit den Karten im Ärmel (was die Gegenspieler, wie immer, nicht bemerken würden), stieß er mit einer jungen Frau zusammen. Ich wage zu behaupten, dass der einzige Mensch, der ihn im Oktober 1966 wirklich von einer Kartenpartie ablenken konnte, diese Frau war: Sarah. zweiundzwanzig Jahre alt, mit wallendem roten Haar, sehr heller Haut und respektlosem Blick. Sarah im Krankenschwesterkittel und darunter im Minirock, Pionierin des Swinging London in ihrem Stadtviertel.
Sarah, meine künftige Mutter.
Gabriel war so verblüfft, dass er nicht gleich wusste, wo er sie einordnen sollte. Das Medizinköfferchen mit dem roten Kreuz, das sie in der Hand trug, half ihm auf die Sprünge. Mit einem süßen Stechen meldete sie sich zurück, die Erinnerung an ihre Begegnung vor gut drei Monaten. Sarah hatte im praktischen Jahr ihrer Schwesternausbildung ihren Arbeitsplatz auf der Fähre. An drei Tagen pro Woche verbrachte sie je zehn Stunden an Bord – vier Überfahrten – und war für die seltenen Fälle zuständig, in denen es medizinischer Versorgung bedurfte. Wenn jemand seekrank geworden oder an Deck ausgerutscht war oder sich zwei schottische Fernfahrer an der Bar geprügelt hatten. Kleinigkeiten. Auch wenn sie mit der Unannehmlichkeit einherging, jede Woche drei Nächte in einer Hafenabsteige in Dover zu verbringen, war es eine ruhige Arbeit. Und nun, während der Sturm das Schiff schüttelte, ging Sarah ganz entspannt umher und verteilte Pillen gegen Übelkeit an die Passagiere.
Bei ihrer ersten Begegnung, im Sommer, waren Wetter und Wasser friedlich gewesen. Bundó und Gabriel hatten sich an den Ecktisch zurückgezogen und rupften den Franzosen. Das schwangere Mädchen setzte sich an Deck diesem Abklatsch von Sonne aus, der an freundlichen Tagen den Kanal versilbert. Und plötzlich wurde sie ohnmächtig. Ein Passagier fing sie auf, als ihr die Beine wegknickten, und legte sie auf den Boden. Sofort war sie von Menschen umringt, die alle ihre Kommentare abgaben. Jemand kniete neben ihr und versuchte sie zu Bewusstsein zu bringen, wobei er immer wieder rief, sie brauche frische Luft, aber sie war ja an der frischen Luft. Sie kam nicht zu sich. Jemand anders drückte aufgeregt den nächsten Alarmknopf, und eine Minute später war Schwester Sarah mit dem Arzneikoffer da. Sie prüfte den Puls des Mädchens, sah sich die Leute ringsum an, und alle fanden, es könne nichts Ernstes sein, man solle die Kleine aber vorsichtshalber ins Krankenzimmer bringen. Als sie dort ankamen – zwei kräftige Engländer trugen das Mädchen –, traten ihnen Bundó und Gabriel auf dem Gang entgegen. Nach dem Alarm hatte sich die Nachricht sofort überall an Bord verbreitet. Das Krankenzimmer war winzig, und Sarah sagte, nur einer der beiden könne sie begleiten. Bundó, der kein Blut sehen konnte, verzichtete schnell mit der Begründung, er sei zu massig für so einen kleinen Raum. Und so geschah es, dass Gabriel und Sarah sich allein im Krankenzimmer einschlossen. Natürlich mit dem ohnmächtigen Mädchen.
»Wir legten sie auf die Pritsche«, erzählte meine Mutter, »und ehe ich irgendwas sagen konnte, gab Gabriel mir zu verstehen, indem er auf ihren Bauch pochte, dass sie schwanger war. ›Are you the father?‹, fragte ich. Er starrte mich an, mit Augen so groß wie Orangen. Ich wiederholte die Frage und sprach sehr langsam. ›No, no. no. no. I only driver. Driver.‹ Beim Sprechen kurbelte er an einem unsichtbaren Lenkrad. ›To Londres. London. I … driver hospital. She … avortar in hospital.‹ Wieder machte er Handbewegungen dazu, diesmal so, als wäre der Bauch des Mädchens ein Ballon und er wollte ihn zum Platzen bringen. Ich nickte, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden hatte, und warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Ich muss zugeben, ich musste ihn nur ansehen und dabei sein Kauderwelsch hören, da hatte er mich schon verführt. Man kann das nicht rational erklären. Wenn Gabriel über etwas reden wollte, gab er seine übliche feierliche Haltung auf und verwandelte sich in
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