Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
einen Sturzbach aus Zuneigung und Besorgtheit. Seine Gesten waren von einer unter englischen Männern völlig unbekannten Zärtlichkeit, und ich gestehe, dass mich im ersten Moment auch das exotische Klischee vom spanischen Macho anzog. Die sehnigen Muskeln, die gebräunte Haut, das heiße Blut … Wenn er mich ansah, musste ich an einen Kochtopf voll Wasser denken, der auf dem Herd zu brodeln beginnt. Es waren so viele Geschichten über feurige Latin Lovers im Umlauf, und auf einmal bot sich mir die Gelegenheit, zu prüfen, ob da was dran war. Ich war immer schon eine, die alles ausprobieren wollte.«
Und nun, am Tag des Sturms, standen Sarah und Gabriel sich erneut gegenüber und erinnerten sich beide lebhaft an das Krankenzimmer. Ein Taumel von Bildern hastig aufgeknöpfter Hemden und hochgeschobener Röcke, von Unbeherrschtheit und jugendlichem Drang; dabei war die Wirklichkeit gar nicht so spektakulär gewesen. Viel war im Grunde nicht passiert, aber jeder für sich hatten sie die Szene danach in der Fantasie vervollständigt und mit sexuellem Glanz angereichert. Erinnerung und Begehren vermischten sich.
Tatsächlich lief es wie folgt ab: Sarah holte das schwangere Mädchen mit Riechsalzen aus der Ohnmacht. Danach maß sie ihren Blutdruck und noch einmal ihren Puls, und als sie feststellte, dass alles in Ordnung war, empfahl sie ihr, wieder an Deck zu gehen, an die frische Luft. Noch ein wenig zittrig, ging sie hinaus, und Sarah sagte zu Gabriel, er müsse noch ein Formular unterzeichnen. Dann knallte sie die Tür zu und warf sich auf ihn wie ein hungriges Raubtier. Nach dem ersten Schreck überließ er sich ihr gern (er überließ sich immer gern, wenn sich die Gelegenheit ergab). Die Formulare flogen, während sie sich küssten, der Inhalt einer Pillendose verstreute sich über den Boden, die medizinischen Instrumente fielen scheppernd hinterher. Kaum hatten sie sich die Kleider vom Leib gerissen, da ertönte die Schiffssirene, dreimal hintereinander, und das hieß, man war in Dover angekommen. Die Lautsprecher forderten die Passagiere auf, sich zu den Parkplätzen zu begeben und ihre Fahrzeuge startklar zu machen. In ihrer Erregung achtete Sarah kaum auf die Durchsage, aber bei Gabriel siegte das Verantwortungsgefühl. Er hielt inne, schwitzend und verwirrt, und zog sich ebenso schnell wieder an, wie er sich ausgezogen hatte. Bevor er ging, gab er Sarah noch einen langen Kuss. »Another day …«, gelang es ihm, in ihr Ohr zu flüstern, und diese sanft kitzelnde Wärme seiner Stimme wirkte wie eine Salbe, die einen Juckreiz lindert. Später, als die Fernfahrer und die Schwangere schon auf dem Weg nach London waren, räumte Sarah das Durcheinander im Krankenzimmer auf und fand dabei in einer Ecke, unter der Pritsche, eine Spielkarte. Zufällig war es der Herz-König. »Was für ein Detail«, sagte sie sich: »Diese Spanier sind als Liebhaber unvergleichlich.«
Hätte Sarah bemerkt, dass er beim zweiten Treffen wieder einen Herz-König im Ärmel trug, einen, den er gerade am Pokertisch in die Freiheit entlassen wollte, so wäre sie vielleicht ernüchtert und hätte diese Anziehung, die durch das Werk der Erinnerung sogar noch gewachsen war, ausbremsen können. Vielleicht. Zu meinem Glück, der ich neun Monate später zur Welt kam, werden wir das nie erfahren. Was wir wissen, ist, dass Gabriel die Karten und das Spiel und Monsieur Champion völlig vergaß und auf Sarah zutrat, um sie zu küssen. Sie hielt ihn zurück. Nicht hier und jetzt, sagte sie ihm auf Englisch und gab ihm zu verstehen, dass die Besatzung des Schiffs es nicht mitbekommen dürfe. Dann legte sie ihm ihren Plan dar: Sie musste noch ein paar Pillen verteilen, aber in einer halben Stunde könnten sie sich, wie beim letzten Mal, im Krankenzimmer treffen und Doktorspiele machen. Gabriel schien nicht ganz verstanden zu haben, also half sie noch ein bisschen nach. Sie nahm eine der Pillen, schob sie ihm in den Mund und ließ zwei Finger dort einige Augenblicke verweilen. Dann steckte sie sie sich selbst in den Mund und lutschte lüstern daran, während sie wieder loslief, auf der Suche nach seekranken Passagieren.
Das Aufbäumen der Fähre, das sich nun dem Versuch verdankte, ein Heer von Riesenwogen zu umschiffen, machte ihm wieder bewusst, in welcher Lage er sich befand. Er überprüfte den Sitz der Karten und ging zurück in die Bar, mit jedem Schritt seine Erregung zügelnd. Im Eingang stieß er auf Bundó, der gerade loswollte, ihn zu
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