Die italienischen Momente im Leben
so sieht, fragt er: »Geht’s dir nicht gut?«
Bei diesen schicksalhaften vier Worten beginnt mein Hirn in fieberhaftem Tempo alle Möglichkeiten durchzugehen und kommt zu folgendem Ergebnis: Sage ich jetzt Ja, könnte ich einen ausgeklügelten Fluchtplan in die Tat umsetzen. Ich müsste nur Unpässlichkeit vortäuschen, um doch noch die zweite Halbzeit des Fußballspiels zu sehen. Ich würde mich von Pasquale zum Auto bringen lassen und ihm versichern, ich könne allein zurückfahren. Und seinen Eltern würde ich mein tiefes Bedauern darüber ausdrücken, dass ich nicht die ganze Prozession mitverfolgen könnte. Dann hätte ich alles ganz für mich allein: Wohnung, Sofa, Fernseher, Fußballspiel. Eigentlich ein unfehlbarer Plan. Doch irgendeinen Fehler muss es darin gegeben haben – oder hatte ein Heiliger seine Finger beziehungsweise das Knie im Spiel? –, denn während mein Hirn all diese schönen Überlegungen anstellte, kam aus meinem Mund nur ein: »Nein, danke, mit mir ist alles in Ordnung.«
»Gelobt sei der Herr«, witzelt Pasquale noch nach den schier endlosen Lobpreisungen und Liedern der Prozession. Da meldet sich plötzlich aus dem Hintergrund der Piazza eine lauteStimme: »DAS KNIE IST FALSCH, DAS ECHTE HABEN SIE IN BRASILIEN EINBEHALTEN!«
Die Gläubigen sind sichtlich erschüttert. Als ich mich zu dem Umstehenden umwende, entdecke ich in ihren Gesichtern Wut und Empörung und einen unchristlichen Rachedurst. Pasquales Vater ist zu Tode erschrocken: »Schnell nach Hause, bevor hier ein Aufstand losbricht. Ich möchte nur wissen, welcher Trottel mich verraten hat …«
Wir sprechen noch das letzte Amen mit, bevor wir mit vorgetäuschter Gelassenheit Richtung Auto marschieren. Innerlich allerdings frohlocke ich weiter, denn jetzt schaffen wir es ja doch noch zur zweiten Halbzeit. Und tatsächlich darf ich vor dem Fernseher meine ermatteten Glieder ausstrecken, und das einzige Runde, mit dem ich mich jetzt noch beschäftigen muss, ist ein schwarz-weißer Ball, der in das Eckige muss. Doch leider waren die Aufregung und die Prozession wohl zu viel für mich, und ich falle in einen tiefen Schlaf. Und für einen echten Italiener gibt es keinen schöneren Traum als den von einem wunderbaren Tor.
Ich will gerade abziehen, als eine Stimme ertönt: »Mach ihn rein, Gloria in excelsis deo. « Da bemerke ich einen Mann auf dem Spielfeld mit einem langen weißen Bart, ganz in Schwarz und mit einer Trillerpfeife, er rennt rechts an mir vorbei, pfeift dabei wie verrückt, schließlich nimmt er sie aus dem Mund und sagt: »Wer nie gesündigt hat, der kicke den ersten Ball.« Nach diesen Worten gibt es bei mir kein Halten mehr, ich hebe den rechten Fuß, nehme Maß und versenke einen mordsmäßig hart geschossenen Ball im Netz (ich war nie groß im Toreschießen, aber das war ein Treffer, wie ihn sich jeder gute Fußballspieler sein Leben lang wünscht). Schnell, genau platziert und unhaltbar. Unbeschreibliche Freude durchfährt mich. Dann leuchtet plötzlich ein blendend helles Licht auf. Als es schwächer wird, erkenne ich die Silhouette des heiligen Andreas, der drohend auf mich zukommt und fragt:
»Wo ist mein Knie geblieben?«
Wieder blendet dieses helle Licht auf, bevor alles um mich herum verschwindet. Schlagartig wache ich auf. Mühsam öffne ich meine Augen und stelle fest, dass ich auf dem Sofa liege, vor mir der Fernseher. Verdammt, was für ein Albtraum!
Der Tag danach
Pasquales Mutter Carmela ist eine großartige Frau, intelligent, lebensklug und sehr religiös. Wie jede wahre Frau aus dem Süden ist sie diejenige, die die Familie zusammenhält. Ihr stolzer Blick fesselt den Betrachter, und sie schämt sich weder ihrer sonnenverbrannten Haut noch der Falten, die von den Mühen der Vergangenheit zeugen.
Ich lerne sie am Tag nach der Prozession ein wenig besser kennen, als wir alle gemeinsam zu einem langen Wochenende aufbrechen. Zuerst geht es nach Reggio Calabria, einer Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten. Neben dem berühmten Aragon-Schloss und dem Nationalmuseum sehen wir uns einige Gebäude aus dem späten Jugendstil auf der Strandpromenade Matteotti an, die D’Annunzio als den »schönsten Kilometer von ganz Italien« bezeichnete. Danach geht es auf den Monte Sant’Elia, von wo wir an den Drei Kreuzen einen atemberaubenden Ausblick auf die Straße von Messina haben.
Irgendwann nimmt mich Carmela beiseite.
»Ich finde es schön, dass ihr so gute Freunde seid. Pasquale hat dich wirklich
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