Die Jaeger der Nacht
meinen Augen wird alles grau.
Minuten – oder Stunden – später komme ich wieder zu mir. Ich fühle mich besser, Kraft ist in meine Glieder zurückgekehrt. Der Himmel ist nicht mehr so dunkel, die Sterne sind jetzt weniger zahlreich und blasser. Ich sehe mich zum Institut um. Niemand hat mich bemerkt.
Obwohl ich weiß, dass es zwecklos ist, durchstreife ich die Bibliothek ein weiteres Mal auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Eine halbe Stunde später lasse ich mich in einen Sessel fallen, mein Körper fühlt sich an wie ein brüchiger Zweig im Herbst, kein einziges Feuchtigkeitsmolekül mehr übrig. Mein Herz pocht aufgeregt, als wüsste es, was ich zu leugnen versuche: Meine Situation ist aussichtslos. Eine weitere Nacht halte ich nicht durch. Wenn sie mich nach der Abenddämmerung abholen kommen, werde ich nicht mehr reagieren können, sie werden mich ausgestreckt auf dem Boden finden, und Sekunden später wird alles vorbei sein.
Ein metallisches Klicken hallt in der Bibliothek wider, gefolgt von einem leisen Surren. Die Fensterläden. Dunkelheit senkt sich, meine Lider schließen sich. In der Dunkelheit wird es kühl. Mein Körpergeruch steigt mir in die Nase, ein widerlicher Hepra-Gestank. Ich schnüffle unter meinen Achselhöhlen. Die Zeit ist reif. Wenn morgen die Sonne unter- und der Mond aufgeht, bin ich ein toter Mann.
Ein totes Hepra.
Im Schlaf verfolgen mich Bilder vom Tod des Hepra: Fieberträume, die Schreie lauter, die Farben schärfer. In meinem Albtraum springt das Hepra in meine Arme. Als mich ein warmes Kribbeln am ganzen Körper erfasst, schreit das Hepra lauter – bis mir klar wird, dass die Schreie nicht von dem Hepra stammen, sondern von den anderen Jägern, die alle noch an ihre Pfosten gefesselt sind und mich anschreien, während ich, das tote Hepra in den Armen, am Boden knie, seine Haut teigig und fleckig blau.
Ich schrecke schaudernd hoch, meine trockenen Lider kratzen über meine Augäpfel.
Es ist helllichter Tag. Der Sonnenstrahl scheint wieder von einem Ende der Bibliothek zum anderen wie ein erleuchtetes Hochseil. Er ist sogar noch heller und breiter, als ich ihn in Erinnerung habe.
Ich bin zu müde, um etwas anderes zu tun, als ihn zu betrachten. Meine Gedanken schweifen willkürlich hin und her, zusammenhanglose Halbschatten, mehr bringe ich nicht zustande. Ich kann nur dumpf auf den Lichtstrahl starren. Also tue ich das, minutenlang (stundenlang?). Dabei wandert der Strahl langsam diagonal über die gegenüberliegende Wand.
Dann geschieht etwas Interessantes. Bei seinem Weg über die Wand trifft er plötzlich auf irgendetwas, das ihn in einem Winkel umlenkt. Zuerst denke ich, meine Augen täuschen mich. Ich blinzele. Es ist immer noch da, deutlicher als zuvor. Der ursprüngliche Strahl, der auf die gegenüberliegende Wand fällt, und der kürzere, der von dort auf die Wand zur Rechten gelenkt wird.
Neugierig stehe ich auf. Ich gehe zur gegenüberliegenden Wand, meine Knie knirschen schmerzhaft in ihren Gelenken wie ein Kaktus auf Beton. An der Stelle, wo der Strahl auf die Wand fällt, hängt an einem Nagel ein runder Spiegel, nicht größer als meine Handfläche und leicht schräg, sodass der Strahl zur Seitenwand umgelenkt wird.
Als ich zu der Seitenwand gehe, geschieht es erneut. Der zweite Strahl wird seinerseits gespiegelt, sodass jetzt drei Lichtstrahlen durch den Raum fallen. Dieser dritte Strahl ist schwach und leuchtet nur kurz auf. Er wird etwa zehn Sekunden lang heller und verblasst dann wieder. Ich laufe zu der Stelle, auf die er gerichtet ist, ein blasser Punkt auf dem Rücken eines Buches. Ich ziehe es heraus und fühle den glatten und abgegriffenen Einband. Ich nehme es mit zu dem ersten Sonnenstrahl, weil mittlerweile auch der zweite allmählich verblasst, halte das Buch ins Licht und lese den Titel:
Die Hepra-Jagd
Vor vielen Monden sank die Population der Hepra – die unbestätigten Theorien zufolge unfassbarerweise einmal das Land beherrscht haben sollen – auf einen bedrohlichen Tiefstand. Auf Anordnung Nr. 56 des Palastes hin wurden die Hepra zusammengetrieben und auf dem Gelände des neu gegründeten Hepra-Instituts für Fortgeschrittene Forschung und Entdeckung angesiedelt. Um die aufgebrachte Bevölkerung zu besänftigen, wurden nach dem Zufallsprinzip angesehene Bürger ausgewählt, an der jährlichen Hepra-Jagd teilzunehmen. Es war ein überwältigender Erfolg. Erstes Anzeichen von Korruption war die sinkende Anzahl von Hepra bei der
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