Die Jäger des Lichts (German Edition)
die kühleBergluft, die den Staub aus meinen Knochen weht, machen mich unvermittelt ein wenig zuversichtlicher. Sissy steht am Rand, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich hatte angenommen, der Chor würde seinen Gesang einstellen, sobald ich herauskomme, doch die Mädchen trällern auch noch weiter, nachdem ich sie ausdrücklich gebeten habe aufzuhören. Ihre runden Engelsgesichter erröten jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, was sie jedoch nicht davon abhält, mich unentwegt anzustarren, mit staunend aufgerissenen Augen und offenen Mündern.
Sissy rümpft die Nase. »Hier dreht sich alles um Schönheit, Frieden und Harmonie. Das ist der Wesenskern der Mission.«
Nach dem letzten Lied zerstreut sich der Chor. Ein Mädchen tritt auf mich zu. »Wir würden uns freuen, wenn du mit uns zu Abend isst.«
»Ja, ich glaube, das habe ich begriffen«, erwidere ich, betont freundlich und aufmerksam. Ihre Wangen laufen dunkelrot an.
»Dann hier entlang«, sagt sie.
Die Gruppe führt Sissy und mich in enger Halbmondformation über die Kopfsteinpflasterstraße. Alle strahlen übers ganze Gesicht, ihre weißen Zähne blitzen in der Sonne. Während wir uns dem Dorfplatz nähern, fällt mir ihr watschelnder Gang auf.
»So gehen sie immer«, sagt Sissy neben mir. »Ich habe sie danach gefragt, aber sie haben mich abblitzen lassen. Wiebei all meinen Fragen.« Sie senkt die Stimme. »Ich glaube, es hat etwas mit ihren Füßen zu tun. Sie sind verkümmert.«
Sie hat Recht. Die Schuhe, die unter ihren Sommerkleidern hervorragen, sind nur kleine Klumpen.
Weitere Mädchen säumen die Straßen, die meisten haben rosige Gesichter und einen dicken Bauch. Dann begreife ich, dass das, was ich für Pummeligkeit gehalten habe, etwas anderes ist: Sie sind schwanger. Jetzt fallen mir überall Mädchen in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft auf, die mit ihrem Babybauch umherwatscheln. Es muss mindestens jedes dritte sein. Und alle zeigen strahlend lächelnd ihre makellosen, glänzenden Zähne.
»Alles okay?«, fragt Sissy.
»Ja«, sage ich und schüttle den Kopf um meine Gedanken abzuschütteln. »Wo ist die ganze Bande?«
»Wahrscheinlich schon im Speisesaal. Seit unserer Ankunft haben sie ununterbrochen gegessen. Sie haben sogar schon ein kleines Bäuchlein zum Beweis.«
Wie alle anderen hier , will ich sagen, doch in diesem Moment betreten wir auch schon den Speisesaal.
Als Erstes bemerke ich, dass er viel voller ist als beim letzten Mal. Die Mädchen und eine Handvoll kleiner Jungen aus dem Dorf sitzen dicht gedrängt an vier langen Tischen mit langen Eichenbänken auf beiden Seiten, die von einem Ende des Saals bis zum anderen reichen. Trotzdem geht es ruhig und geordnet zu. Die Sonne fällt schräg durch die hohen, bis zu den Dachbalken aufragenden Fenster.
Ich werde bis ganz nach vorn auf eine Bühne geführt, wo die Jungen um einen Tisch sitzen. Sissy hat Recht: Sie haben alle ordentlich zugelegt. Ihre Gesichter sind runder geworden, ihre Mienen erholter und träger. Sie freuen sich, mich zu sehen; Ben, David und Jacob springen auf und umarmen mich.
»Ben!«, rufe ich, als wir uns setzen. »Deine Backen sind ja so groß wie Luftballons!«
Alle am Tisch lachen. Jacob steigt auf den Spaß ein. »Es ist, als ob die ganzen zehn Pfund, die er hier zugenommen hat, ausschließlich in seine Backen gegangen sind.« Er kneift Ben leutselig in die Wange.
»Wie lange sind wir jetzt hier?«, frage ich. »Drei Tage oder drei Monate? Schaut bloß, wie ihr zugenommen habt!«
Ben legt den Kopf zur Seite. »Wer will es uns verdenken?«, sagt er lachend. »Das Essen hier ist einfach unglaublich.«
Unser Tisch ist nicht der Einzige auf der Bühne. Am vorderen Rand steht ein weiterer, stämmig und mit so mächtigen und prachtvoll geschnitzten Beinen, dass es aussieht, als würden sie aus dem Bühnenboden wachsen. Er ist mit einer gestärkten weißen Tischdecke, Silberbesteck und glänzenden Tellern gedeckt.
»Das ist der Tisch für die führenden Älteren«, erklärt Jacob mit einem Blick zur Küchentür.
Wie auf Stichwort betritt eine Gruppe Älterer den Saal. Sofort erheben sich alle und senken ehrerbietig den Kopf. Die Älteren schlendern mit über dem Gürtel schwabbelnderWampe herein. Krugman kommt als Letzter, und erst nachdem er Platz genommen hat, setzen sich auch die anderen Älteren und danach alle anderen. Alles geschieht erstaunlich leise. Sogar die Bänke schrammen so geräuschlos wie möglich über den Boden.
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