Die Jäger des Lichts (German Edition)
meine Hand ergreift. Nein, nicht meine Hand, sondern mein Handgelenk, und das ist das erste Zeichen dafür, dass irgendwas nicht stimmt.
Wir schreiten über den gepflasterten Pfad zum Institut. Zu beiden Seiten stehen Mitarbeiter und verfolgen unseren Gang, ihre Mienen sind ernst und gleichgültig, ihre Körper vor Erschöpfung vornübergebeugt. Als ob sie schon sehr lange darauf gewartet hätten, dass wir vorbeikommen. Niemand sagt ein Wort. Dann betreten wir das Hauptgebäude des Hepra-Instituts. Als wir über den Teppich in der Halle laufen (jeder Seidenfaden scheint meine nackten Fußsohlen verführerisch zu umschmeicheln), sind alle Jäger versammelt, um uns mit einem stummen Nicken zu begrüßen. Sie hängen von der Decke und kratzen sich ohne Hast das Handgelenk, während ihre Körper wie Kadaver in der Brise baumeln. Ihre klaffenden Verletzungen von unserer letzten Begegnung springen mir ins Auge: offene Oberschenkelwunden, kraterartige Löcher in Brust oder Kopf. Rotlippchen, nach wie vor von einer Harpune durchbohrt, flüstert mit knallroten Lippen immer wieder »Gene, Gene, Gene«. Und die ganze Zeit hält Ashley June nicht meine Hand, sondern mein Handgelenk. Ihre erschreckend scharfen Fingernägel kratzen über meine Haut. Als ob das Ganze unendlich komisch wäre, ein einziger langer Witz. Aber in den Winkeln ihrer ausdruckslosen, trockenen Augen zerläuft der Lidstrich.
Sie führt mich eine Treppe hinunter, wir schweben beide mit Leichtigkeit dahin. Die winterliche Kühle und die Dunkelheit nehmen immer weiter zu, bis es sich anfühlt, als würden wir durch eisiges schwarzes Gel waten. Ashley Junes weißes Brautkleid leuchtet wie eine helle Flamme, die in einen dunklen Brunnen gefallen ist.
In der Introduktion fesselt sie mich an einen Pfahl. Sorgfältig, aber gelangweilt sichert sie meine Hand- und Fußgelenke. Ich habe nicht die geringste Angst. Sie ist bei mir. Sieüberprüft die Knoten und schwebt dann wie ein Gespenst zu der Luke, die zu ihren Gemächern in der Grube führen. Sie verschwindet darin wie ein Geist in der Flasche. Das Licht ihres Kleids wird von der undurchdringlichen Finsternis verschluckt.
Und jetzt bekomme ich Angst.
Ich zerre an meinen Fesseln, die zu meiner Überraschung von mir abfallen wie Streifen schmelzenden Specks. Ich versuche die Luke zu finden, doch in der Dunkelheit bin ich blind. Ich strecke die Arme aus, taste mich voran.
Ashley June.
Aber dann werden die Dinge in meinem Kopf verschwommen. Ich verhasple mich bei ihrem Namen.
June Ashley.
Nein, nein , denke ich kopfschüttelnd. Ash Junely. Ash July. Komm, hilf mir .
Dann bin ich plötzlich in ihren Gemächern in der Grube, was ich an den feuchten Wänden um mich herum erkenne. Ich komme mir vor wie eine dicke trockene Zunge in einem winzigen Mund. »July Ash!«, rufe ich. »July Ash!«
Sie tritt aus dem Dunkel, und ich kann nur ihr Gesicht sehen. Aber es ist ein anderes Gesicht, sodass ich kurzzeitig verwirrt bin. Dann erkenne ich, dass sie es doch ist, aber das Bild verändert sich permanent, die Augen schrumpfen und verschieben sich seitlich, die Wangenknochen treten deutlicher hervor und hängen über den Backen, ihr Nasenrücken wird breiter und wieder dünner, und ihre Augenfarbe ändert sich in einem Prisma von Grün bis Schwarz. Sie ist es. Dann ist es Flatterkleid. Dann Body. Dann Rotlippchen.
Sie spricht, flüstert immer wieder »Gene, Gene, Gene«, anfangs drängend und angstvoll, dann zunehmend resigniert und unartikuliert. »Gene-Gee-Ge…« Bis sie überhaupt nicht mehr klingt wie Ashley June, sondern wie eine Mischung aller Stimmen von allen Mädchen aus dem Dorf, zunächst fröhlich und wohlklingend, dann mit einer Energie, die sich bis zur Raserei steigert, eine fanatische Masse, schneller und schneller, lauter und lauter, ein zersplitterter Schrei, der immer schriller wird.
Ich werfe den Kopf hin und her, um den Traum abzuschütteln, doch die Dunkelheit der Grube ist in die Falten meines Gehirns gesickert. Ich verstehe nichts mehr, ich erinnere mich nicht mehr. Und es ist der Schrecken dieses Moments, der mich endlich aus meinem Albtraum reißt.
Ich kann mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Und auch nicht an den Klang ihrer Stimme.
19
Ich wache schreiend auf. Der Nachgeschmack meines Albtraums hat sich wie säurehaltiger Rost auf meinem Hirn abgelagert. Einen Moment lang glaube ich, das Fieber sei zurückgekehrt, doch meine Stirn fühlt sich trocken und kühl an. Ich schließe die
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