Die Jäger des Lichts (German Edition)
die Temperatur sinkt, Blut rauscht in meinen Ohren …
Ich werde es nicht schaffen. Ich habe keine Reserven mehr.
Keine Luft. Ein kreischendes Delirium übernimmt meinen Verstand, messerscharfe Krallen schlitzen mir die Brust auf. Ich will nichts mehr als ein Ende dieser Krämpfe, will nur, dass dieses finale Stadium des Ertrinkens vorbei ist und sich die Ruhe des Todes einstellt.
Dann berühren meine Finger etwas. Keine weiche Haut, sondern dankenswert hartes Metall, den Boden des Schachts. Ich rudere mit den Armen und suche die Öffnung, wo sich der Schacht zur anderen Seite der Wand wölbt, doch ich finde sie nicht. Erst als ich meinen Körper noch weiter nach unten stoße, sehe ich sie, direkt vor meinem Gesicht.
Sie ist erschreckend klein.
Meine Schultern werden kaum hindurchpassen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich strecke die Arme aus. Mir bleibt keine andere Wahl, als bei dem Versuch zu ertrinken.
Der Tunnel ist nicht lang. Er ist sogar so kurz, dass ich den Rand auf der anderen Seite packen, in einer Art horizontalem Klimmzug Kopf und Schultern hindurchziehen und den zweiten Schacht hinaufblicken kann. Er ist viel breiter. Ich muss meinen Körper nur noch ganz durch den Tunnel ziehen und an die Oberfläche strampeln. Sie ist nur noch Sekunden entfernt. Luft ist nur noch Sekunden entfernt.
Aber ich stecke fest. Irgendetwas behindert mein Vorwärtskommen. Das Schatter-Mädchen. Auch wenn es ertrunken ist, sind seine Krallen immer noch im Stoff meiner zerrissenen Hose verhakt. Ich schleppe es hinter mir her, und es klemmt irgendwo im Schacht fest.
Ich ziehe wie verrückt und komme ein kleines Stückchen vorwärts. Ich schaffe es, fast meinen ganzen Körper durch den Tunnel in den breiteren vertikalen Schacht zu bugsieren. Doch wieder spüre ich eine Blockade. Sosehr ich auchstrample, die Hand des toten Schatters hängt an meiner Hose. Selbst ertrunken ist er noch eine tödliche Fußfessel.
Das ist also das Ende. Allein in einem kalten nassen Grab, die Welt um mich herum schwarz. Es ist wie eine Quintessenz meines Lebens, die Einsamkeit, die Unsicherheit, die Verzweiflung und Enge in diesem schmalen Sarg. Mein Körper fährt herunter, meine Muskeln entspannen sich. Selbst das Rauschen in meinen Ohren wird allmählich leiser. Meine angespannten Finger lösen sich, meine Arme treiben nach oben wie zwei Rauchfäden über einem Scheiterhaufen.
Der Tod ist nicht so schlimm. Es hat nur so lange gedauert, bis hierher zu kommen, mehr nicht. All die Jahre.
Über mir taucht ein Engel auf, ein grauer Umriss; das Haar nach hinten gebunden schwebt er zu mir herab, die großen Augen wie zwei Tauben. Ich bin bereit, als er seine langen glatten Arme ausstreckt. Er zieht einmal, zweimal. Ich stecke fest, und er taucht noch ein Stück tiefer.
Irgendetwas löst sich von meinem Bein, und der Engel zieht mich nach oben. Ich erlebe diese Befreiung wie aus weiter Ferne, und sie kommt mir belanglos vor. Ich spüre nur den warmen Körper des Engels an meinem Rücken, weich und tröstend. Ich treibe langsam nach oben, seine Arme sind unter meinen Achselhöhlen, seine Hände auf meiner Brust gefaltet, und schwarze Wände gleiten an uns vorbei, als wir aufsteigen, aus dem Becken, durch die Deckedes Immensariums, vorbei an Wolken und Sternen in den Himmel, nur dass es dort oben keine singenden Engel gibt, keine Straßen aus Gold, keine Milch, keinen Honig, kein Obst und keinen Sonnenschein, sondern nur schwarze Dunkelheit, und dann ist alles nicht mehr.
37
Ich komme wieder zu mir, weil irgendetwas grob, beharrlich, schmerzhaft und rhythmisch auf meine Brust stampft. Einen Moment lang passiert nichts; ich sinke zurück in das Grau.
Dann spüre ich samtweiche Lippen auf meinen, feucht und süß, lebendig und allumfassend. Ihr Druck wird fester, ihr Griff unerbittlich.
Luft strömt durch meinen Mund in meine Luftröhre. Der sengende Schwall von Sauerstoff schießt wie ein säurehaltiger weißer Blitz durch mein Gehirn. Ich muss würgen, und abgestandenes Wasser quillt aus meinem Mund, stinkend und lauwarm, als würde es schon jahrelang in meinem Körper faulen. Ich sauge Luft ein, satten reinen Sauerstoff, der eine strahlende Klarheit mit sich bringt.
»Dreh dich auf die Seite«, sagt Sissy und hilft mir. »Spuck alles aus.«
Wasser spritzt aus mir heraus, mehr als ich für möglich gehalten hätte, und mit solcher Wucht, dass es sich anfühlt, alswürde ich Stücke meiner Leber, meines Magens und meiner Nieren
Weitere Kostenlose Bücher