Die Jägerin (Die Anfänge) (German Edition)
aber die Frau, die als Vorlage für Schneewittchen diente. Und….“
Ich musste ihn an dieser Stelle unterbrechen. Mir war ein Gedanke durch den Kopf geschossen. „Moment mal, wann wurde das Märchen geschrieben?“ Ich versuchte mir immer noch auszumalen, wie alt der Pater wirklich war. Er selbst schwieg sich ja zu der genauen Angabe aus.
„Die Erstausgabe der Märchensammlung erschien 1812, Miss Ada,“ antwortete er mir.
Ich rechnete schnell nach. „Das sind ja…,“ ich glotzte ihn ungläubig an, „zweihundert Jahre!“
Also, ich stand zwar auf alte Sachen, wie verfallene Ruinen und Grabdenkmäler, die von Wind und Wetter bearbeitet worden waren, und ich mochte auch alte Fotoapparate, in die man noch eine Filmrolle einlegen musste. All das hatte doch Charme. Aber Männer, die so alt waren, dass sie eigentlich nur noch Staub sein müssten?
„Mindestens, Miss Ada,“ sagte Pater Michael amüsiert und gab mir sein tatsächliches Alter immer noch nicht preis. Dann schloss er dort an, wo ich ihn unterbrochen hatte. „So wie Sie heute aussehen, erinnern Sie mich an sie. Bis auf die Augen. Solch eine Farbe habe ich noch nie gesehen.“ Er legte den Kopf schief und betrachtete eingehend meine türkisfarbenen Augen. „Bemerkenswert. Wahrlich bemerkenswert,“ sagte er leise in Bewunderung und versank in Gedanken, die mir verborgen blieben.
Jetzt wusste ich auch, wieso er mich bei unserer ersten Begegnung so ungläubig gemustert hatte. Meine Ähnlichkeit mit dieser Frau hatte ihn überwältigt. Vielleicht hatte er gedacht, vielleicht sogar gehofft, dass sie auferstanden war? Er musste diese Frau geliebt haben und sich noch heute nach ihr sehnen, denn der Ausdruck auf seinem Gesicht war so verträumt und glückselig.
Ich wollte ihn gerade danach fragen, als das Schwelgen in lieblichen Erinnerungen auch schon wieder vorüber war und er wieder der olle, alte Miesepeter war, den ich kennengelernt hatte. Ich nahm mir vor, ihn zu einem späteren Zeitpunkt nach der Frau zu fragen.
„Und sind Sie dazu gekommen, ihn nochmals darauf anzusprechen?“, fragte der Reporter und sah mich erwartungsvoll an.
„Ja, aber es war eine dumme Idee,“ antwortete ich. Ich blickte auf meine Hose hinunter und wischte imaginäre Fussel weg.
23. Pater Michaels Sehnsucht
Ich hatte gerade eine Trainingsstunde mit ihm beendet. Es war ziemlich gut gelaufen, und Pater Michael war deswegen in Hochstimmung. Er hatte mich sogar für meine Leistung gelobt, was äußerst selten vorkam. Aber ich fühlte mich dadurch irgendwie total beschwingt und dachte, es wäre der richtige Zeitpunkt, ihn noch einmal auf das Thema anzusprechen. „Erinnern Sie sich noch an unsere Unterhaltung über Schneewittchen?“
Er nickte und musterte mich argwöhnisch. Ich merkte, dass er sofort misstrauisch geworden war, was mich sehr wunderte. „Als Sie sich an die Frau erinnerten, sahen Sie aus, als würde sie Ihnen fehlen.“
Pater Michael wandte sich ab und begann damit, die Trainingsmatten zusammenzuschieben, wobei er mehr Kraft anwendete, als es nötig gewesen wäre.
„Kommen Sie schon, Pater. Sie haben gesagt, ich war heute gut. Habe ich mir da nicht etwas mehr verdient, als störrisches Schweigen?“
Abrupt erhob sich der Pater. Er wirbelte zu mir herum und blickte mich finster an. Sofort wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. „Und was könnte das Ihrer Meinung nach sein, Miss Ada? Etwa rührselige Gefühlsduselei? Soll ich Sie in mein Innerstes schauen lassen?“
„Für den Anfang würde mir etwas Menschlichkeit und ein kleiner Einblick in Ihre Gefühlswelt reichen,“ erwiderte ich und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Sein Ton gefiel mir absolut nicht!
Seine Hände ballten sich unter den Ärmeln seiner schwarzen Soutane zu Fäusten. Ich sah die weißen Knöchel unter dem Stoff hervorlugen. Nach einer Weile entspannte er sich wieder. Er drehte sich erneut von mir weg, blieb aber stehen. Ich starrte seinen dunklen Hinterkopf an. „Ja, ich vermisse diese Frau, Miss Ada. Sie kam nur ein paar Mal in meine Kirche, da sie Verwandte besuchte, die zu meiner Gemeinde gehört hatten. So lernte ich sie kennen,“ sagte er leise.
„Haben Sie sie geliebt?“, fragte ich und konnte beobachten, wie er bei dem letzten Wort zusammenzuckte. Dann nickte er. „Ich betete sie an!“, rief er mit mehr Inbrunst aus, als er eigentlich hatte an den Tag legen wollen. Er räusperte sich kurz, dann fuhr er fort: „Das geschah aber
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