Die Jagd beginnt
Ingtar?«
»Alle Lanzenträger. Wenn wir Shienarer ins Feld ziehen, weiß jeder, wer der nächste sein wird, falls der Kommandant fällt. Diese Kette zieht sich ohne Unterbrechung bis zum letzten noch verbleibenden Mann, selbst wenn er nur ein Pferdeknecht ist. Seht Ihr, auf diese Art – auch falls er wirklich der allerletzte ist – betrachtet man ihn nicht nur als einen flüchtenden Nachzügler, der lediglich am Leben zu bleiben versucht. Er führt das Kommando, und die Pflicht hält ihn dazu an, das zu tun, was notwendig ist. Falls ich mich in die letzte Umarmung der Mutter begebe, fällt diese Pflicht an Euch. Ihr werdet dann das Horn finden und es dorthin bringen, wo es hingehört. Das werdet Ihr tun.« Ingtar betonte diese letzten Worte eigenartig.
Das Bündel in Rands Armen erschien ihm bleischwer. Licht, sie kann dreihundert Meilen weit entfernt sein, und doch streckt sie die Hand aus und zieht an meiner Leine. Hierhin, Rand. Dorthin. Du bist der Wiedergeborene Drache, Rand. »Ich will diese Pflicht nicht, Ingtar. Ich kann das nicht annehmen. Licht, ich bin doch nur ein Schäfer! Warum glaubt mir das keiner?«
»Ihr werdet Eure Pflicht tun, Rand. Wenn der Mann an der Spitze versagt, fällt alles unter ihm auseinander. Es zerfällt schon zu viel. Viel zu viel. Der Friede möge Eurem Schwert hold sein, Rand al’Thor.«
»Ingtar, ich …« Aber Ingtar ging weiter und rief nach Uno, um in Erfahrung zu bringen, ob er seine Kundschafter bereits ausgesandt hatte.
Rand betrachtete das Bündel in seinem Arm und leckte sich die Lippen. Er ahnte, was darin war. Einerseits wollte er nachsehen, andererseits hätte er es gern ungeöffnet ins Feuer geworfen. Er überlegte sich, dass er das vielleicht wirklich tun sollte, falls er die Gewissheit hatte, dass der Inhalt verbrannte, ohne für die anderen sichtbar zu werden; falls er die Gewissheit hatte, dass der Inhalt überhaupt verbrennen würde. Aber hier konnte er nicht nachsehen. Zu viele fremde Augen konnten zuschauen.
Er blickte sich im Lager um. Die Shienarer luden das Gepäck von den Packpferden ab, und man gab bereits ein kaltes Abendessen aus Trockenfleisch und Fladenbrot aus. Mat und Perrin versorgten ihre Pferde, und Loial saß auf einem Stein und las in einem Buch. Seine langstielige Pfeife hatte er zwischen die Zähne geklemmt, und eine dünne Rauchfahne erhob sich über seinen Kopf. Rand packte das Bündel so fest, als fürchte er, es fallen zu lassen, und schlich sich zwischen die Bäume.
In einer kleinen, von dicht belaubten Zweigen überwucherten Lichtung kniete er nieder und legte das Bündel auf den Boden. Eine Weile starrte er es nur an. Das hätte sie nicht getan. Bestimmt nicht. Eine kleine Stimme aus seinem Inneren antwortete: Aber sicher doch. Das könnte und würde sie tun. Schließlich machte er sich daran, die kleinen Knoten in der Packschnur zu lösen. Saubere Knoten, so dicht geknüpft, dass sie ganz eindeutig nach Moiraines Handarbeit aussahen; kein Diener hätte das an ihrer Statt so machen können. Sie hätte es auch nicht gewagt, den Inhalt in Gegenwart von Dienern zu zeigen.
Als er die letzte Schnur gelöst hatte, öffnete er das Bündel mit tauben Händen und blickte den Inhalt an. Er schien Staub im Mund zu haben. Der Inhalt bestand nur aus einem Stück, weder gewoben noch gefärbt, noch bemalt. Eine Flagge, weiß wie Schnee, groß genug, dass man sie über ein ganzes Schlachtfeld hinweg sehen konnte. Und darüber bewegte sich eine sich schlängelnde Gestalt wie eine Schlange mit goldenen und roten Schuppen, eine Schlange jedoch, die vier geschuppte Beine besaß, jedes mit fünf goldenen Klauen bewehrt, eine Schlange mit Augen wie die Sonne und der goldenen Mähne eines Löwen. Er hatte das schon einmal zuvor gesehen, und Moiraine hatte ihm erklärt, was es war: das Banner von Lews Therin Telamon, Lews Therin Brudermörder, im Schattenkrieg. Das Banner des Drachen.
»Schau dir das an! Schau, was er jetzt wieder hat!« Mat platzte in die kleine Lichtung hinein, und Perrin kam etwas langsamer hinterher. »Zuerst kostbare Mäntel«, fauchte Mat, »und jetzt noch eine eigene Flagge! Jetzt wird er sich endlos damit aufspielen wollen …« Mat kam nahe genug, um die Flagge zu erkennen, und der Mund klappte ihm herunter. »Beim Licht!« Er stolperte einen Schritt nach hinten. »Verflucht!« Auch er war dabei gewesen, als Moiraine die Bedeutung des Banners erklärt hatte. Genau wie Perrin.
In Rand stieg Zorn auf, Zorn auf Moiraine
Weitere Kostenlose Bücher