Die Jagd beginnt
Ihr da hattet. Von vier Frauen, die gezwungen sind, das zu tun, was Ihr tatet, überlebt nur eine. Wilde natürlich …« Verin verzog das Gesicht. »Verzeiht mir, aber so nennen wir in der Weißen Burg die Frauen, die ohne Ausbildung die Macht zumindest im Groben beherrschen – mehr zufällig, man kann es kaum Beherrschung nennen, ebenso wie bei Euch, aber doch eben eine Art von Beherrschung. Wilde haben ihre Schwierigkeiten, das stimmt. Fast immer haben sie Mauern um sich herum aufgebaut, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, was sie tun, und diese Mauern wiederum verhindern die bewusste Kontrolle. Je länger man sich hinter diesen Mauern verbirgt, desto schwerer ist es, sie zu beseitigen, aber wenn man es schafft – na ja, einige der begabtesten Schwestern waren einmal Wilde.«
Nynaeve rutschte unruhig hin und her und sah die Zeltklappe an, als plane sie die Flucht.
»Ich weiß nicht, was das alles mit mir zu tun haben soll«, sagte Egwene.
Verin sah sie mit großen Augen an, beinahe so, als frage sie sich, wo sie eigentlich herkäme. »Mit Euch? Natürlich nichts. Dein Problem liegt ganz anders. Die meisten Mädchen, die Aes Sedai werden wollen – sogar die meisten jener, die den Samen in sich tragen, so wie Ihr, haben auch Angst davor. Selbst nachdem sie die Burg erreicht haben, selbst nachdem sie gelernt haben, was und wie sie es anstellen sollen, müssen sie noch monatelang Schritt für Schritt von einer Schwester oder einer der Aufgenommenen geführt werden. Ihr allerdings nicht. Moiraine hat mir erzählt, Ihr hättet Euch hineingestürzt, sobald Ihr wusstet, dass Ihr die Fähigkeiten besitzt, und habt Euch Euren eigenen Weg durch die Dunkelheit gesucht, ohne zu überlegen, ob Euer nächster Schritt nicht vielleicht in einen bodenlosen Abgrund führt. Oh, es hat schon andere als Euch gegeben, Ihr seid kein Einzelfall. Moiraine selbst war genauso. Sobald sie wusste, was Ihr getan habt, hatte sie keine andere Wahl mehr, als mit Eurem Unterricht zu beginnen. Hat Euch Moiraine das niemals erklärt?«
»Nie.« Egwene wünschte, ihre Stimme klänge nicht so atemlos. »Sie hatte … mit anderen Sachen zu tun.« Nynaeve schnaubte leise.
»Nun, Moiraine hat es nie für nötig gehalten, irgendjemandem etwas zu erzählen, was er nicht unbedingt wissen musste. Das Wissen an sich erfüllt keinen wirklichen Zweck, aber die Unwissenheit eben auch nicht. Ich persönlich ziehe es in jedem Fall vor, zu wissen.«
»Gibt es einen? Einen Abgrund, meine ich?«
»Offensichtlich bisher noch nicht«, sagte Verin mit schräg geneigtem Kopf. »Aber beim nächsten Schritt?« Sie zuckte die Achseln. »Seht Ihr, Kind, je mehr Ihr Euch bemühst, die Eine Quelle zu berühren, je mehr Ihr versucht, die Eine Macht zu lenken, desto leichter wird es Euch gelingen. Ja, sicher, am Anfang fühlt man nach der Quelle, und in den meisten Fällen ist es lediglich, als ergreife man Luft. Oder man berührt Saidar tatsächlich, doch auch wenn man die Macht durch sich fließen fühlt, kann man nichts damit anfangen. Oder man tut etwas, aber es ist absolut nicht das, was man eigentlich wollte. Das ist die Gefahr. Normalerweise wird man geführt und geschult, und die eigene Angst lässt es einen auch langsam angehen, und dann erlangt man gleichzeitig die Fähigkeit, die Quelle zu berühren, die Fähigkeit, die Macht zu lenken und die Fähigkeit, auch das eigene Tun unter Kontrolle zu halten. Aber Ihr habt damit begonnen, die Macht zu lenken, ohne dass jemand da war, der Euch beibringen konnte, Eure eigenen Fähigkeiten wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Ich weiß, Ihr glaubt nicht, dass Ihr bereits sehr weit fortgeschritten seid, und das stimmt auch, aber Ihr seid wie jemand, der sich selbst beigebracht hat, Berge zu besteigen – wenigstens manchmal –, ohne zu lernen, wie man auf der anderen Seite wieder hinunterkommt. Früher oder später werdet Ihr abstürzen, falls Ihr das nicht auch noch lernt. Und ich spreche jetzt keineswegs davon, was geschieht, wenn einer dieser armen Männer damit beginnt, die Macht zu lenken – Ihr werdet nicht in Wahnsinn verfallen oder sterben, nicht, wenn Schwestern da sind, die Euch führen und lehren –, sondern davon, was Ihr durch Zufall, ohne eigenes Zutun, anrichten könntet.« Für einen Moment wirkte Verins Blick nicht mehr so abwesend. Und in diesem Moment war der Blick der Aes Sedai genauso scharf wie der der Amyrlin von Egwene zu Nynaeve gehuscht. »Eure angeborenen
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