Die Jagd des Adlers
nicht daran, neue Gläubige zu finden.«
»Warum werden sie nicht einfach ausradiert? Und ihre Führer hingerichtet?«
»Alles zu seiner Zeit. Sobald es nötig werden sollte.«
Cato lachte. »Willst du damit sagen, dass diese Leute Rom überwinden können?«
»Nein. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber wir behalten sie im Auge. Wenn ich zu dem Schluss kommen sollte, dass es sich bei ihnen um die Bedrohung handelt, von der die Schriftrollen sprechen, dann werden sie … aus dem Spiel genommen.«
Cato fiel auf, dass dieser Euphemismus typisch für die Ausdrucksweise seines Gegenübers war. Für einen kurzen Moment empfand er Verachtung, doch dann fragte er sich wie in einem Blitz plötzlicher Einsicht, ob der kaiserliche Sekretär seine Arbeit überhaupt nur deshalb verrichten konnte, weil sein ganzes Denken von solchen Euphemismen geprägt war. Schließlich führten die Entscheidungen, die Narcissus traf, häufig dazu, dass jemand starb. Vielleicht waren es notwendige Tode, aber das änderte nichts. Es waren eben – Tode. Gegner des Kaisers, die mit einem Federstrich der Vergessenheit anheimgegeben wurden. Wie sehr mochte das auf dem Gewissen eines Menschen lasten? Da war es für Narcissus bei Weitem leichter, diese Menschen als Problem zu betrachten, das man löste, und sie nicht als eine Reihe von Leichen zu sehen, die er auf seinem Weg zurückließ. Natürlich, dachte Cato, unterstellte man damit, dass dieser Mann überhaupt ein Gewissen hatte, das sich durch Entscheidungen über Leben und Tod, die er Tag für Tag traf, in Unruhe versetzen ließ. Was wäre, wenn er überhaupt kein Gewissen hatte? Was wäre, wenn diese Euphemismen nur seiner persönlichen Art, sich auszudrücken, entsprachen? Cato schauderte. In diesem Fall hätte Narcissus überhaupt keine ethischen Prinzipien. Das Ideal Roms wäre nichts weiter als eine leere Hülle, in deren wahrer Mitte sich nichts weiter befand als nackte, schmucklose Gier und die Sucht nach Macht einer kleinen Elite. Cato versuchte, diese Gedanken abzuschütteln und sich auf die unmittelbare Angelegenheit zu konzentrieren.
»Ich hätte gedacht, du würdest solchen Vorhersagen nicht allzu viel Vertrauen schenken.«
»Normalerweise tue ich das auch nicht. Aber zufällig kam mir genau an dem Tag, als ich etwas über diese mögliche Bedrohung Roms las, auch ein ziemlich beunruhigender Geheimbericht auf den Tisch, in dem die Beobachtungen meiner Agenten in den östlichen Provinzen zusammengestellt worden waren. Anscheinend kommt es in dieser Region gleichzeitig zu mehreren gefährlichen Entwicklungen. Ein Aspekt besteht darin, dass die Gefolgsleute dieses Jehoshua geteilt sind. Die eine Gruppe, die sogar Anhänger in Rom gefunden hat, predigt eine Art weltabgewandten Friedenskult. Damit können wir leben. Welche Gefahr sollte schließlich von einer solchen Einstellung ausgehen? Es ist vielmehr die zweite Gruppe, die mir Sorgen macht. Der Anführer dieser Bewegung ist besagter Bannus von Kanaan. Er predigt, dass das Volk Judäas auf jede nur denkbare Art Widerstand gegen Rom leisten soll. Wenn sich diese Lehre über die Grenzen der Provinz hinaus verbreitet, kommen wir wirklich in Schwierigkeiten.«
»Allerdings.« Cato nickte. »Aber du hast angedeutet, dass es noch mehr Bedrohungen gibt. Welche sind das?«
»Einerseits unsere alten Gegner, die Parther. Sie bemühen sich darum, in Palmyra an Einfluss zu gewinnen, was bedeutet, dass sie bis direkt an die Grenzen unserer eigenen Territorien vorzudringen versuchen. Doch als wären die Aktionen der Parther, die immer schwierigere Lage in Judäa und der wachsende Einfluss dieses Bannus nicht schon problematisch genug, hat sich die Lage darüber hinaus auch noch dadurch verschärft, dass der Statthalter von Syrien mit den Liberatoren in Verbindung gebracht wurde. Wenn man all das zusammennimmt, wäre es selbst für einen zynischen Rationalisten wie mich geradzu tollkühn, die Worte der Prophezeiung zu ignorieren.«
»Was möchtest du mir damit genau sagen?« Cato runzelte die Stirn. »Die Prophezeiung kann sich auf jede dieser Bedrohungen beziehen – vorausgesetzt, dass sie überhaupt irgendeinen Wert hat.«
Narcissus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte. Er schwieg einen Augenblick lang, und Cato nahm zum ersten Mal bewusst wahr, wie der Regen gegen das Fenster prasselte. Der Wind musste seine Richtung geändert haben. In der Ferne leuchtete ein Blitz auf, sodass die Gestalt des kaiserlichen Sekretärs für einen
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