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Die Jagd - Laymon, R: Jagd - The Endless Night

Die Jagd - Laymon, R: Jagd - The Endless Night

Titel: Die Jagd - Laymon, R: Jagd - The Endless Night Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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die Augen zugemacht.
    Danach hatte sie stundenlang geschlafen.

    Kein Wunder, dachte sie. Letzte Nacht bin ich ja kaum dazu gekommen.
    Letzte Nacht. Der Flur. Der Blick ins Schlafzimmer. Die Männer. Das viele Blut. Der verkehrt herum gehaltene Kopf …
    Sie sprang auf und eilte mit zusammengebissenen Zähnen durchs Zimmer. Die Verbände und Socken schützten ihre Füße kaum, deshalb wollte sie sofort in ihre gut gepolsterten Reeboks schlüpfen.
    Während sie in ihrem Schrank danach suchte, fiel ihr ein, dass sie die Schuhe bei Evelyn getragen hatte.
    Es waren nagelneue Turnschuhe gewesen, weiß mit rosa Schnürsenkeln und unglaublich weich und bequem. Sie hatten bei jedem Schritt gefedert.
    Weg. Verbrannt.
    Bei dem Gedanken an diesen Verlust schnürte sich ihre Kehle zusammen.
    So was Blödes, dachte sie. Es sind doch nur Schuhe.
    Sie fand ein Paar Mokassins. Als sie ihr Zimmer verließ und den Flur hinunterging, fiel ihr ein, dass sie auch ihre I-Ah-Socken verloren hatte.
    Meine I-Ah-Socken.
    Das tat weh. Ihre Augen brannten. Obwohl sie wusste, dass es ziemlich dämlich war, wegen eines Paars Socken in Tränen auszubrechen, konnte sie nicht anders. Ihr Dad hatte sie ihr geschenkt. I-Ah war Winnie Puuhs trauriger, melancholischer Freund, der ständig das Opfer der Ungerechtigkeit des Lebens wurde. Er musste einem einfach leidtun. Man wollte ihn am liebsten drücken und beschützen.
    Hätte sie nur die Tigger-Socken angezogen. Tigger hätte ruhig in Flammen aufgehen können. Aber I-Ah …

    Dann sah sie Andy, der auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief, und vergaß die Socken. Er steckte bis zu den Schultern unter einer Decke. Sie konnte nur den Umriss seines Körpers und das hellbraune Haar auf seinem Hinterkopf erkennen.
    Er wirkte so winzig.
    Und so allein.
    Aber er hat ja mich, sagte sie sich.
    Ich habe ihn gerettet. Ohne mich wäre er jetzt tot.
    Sie begriff, dass er nicht mehr nur Evelyns nervtötender Bruder war. Jetzt, da sie ihn gerettet hatte, war er für sie mehr als das.
    Als wäre er mein eigener Bruder, dachte sie einen Augenblick lang, während sie ihn ansah. Da sie jedoch keinen Bruder hatte, wusste sie auch nicht, ob sie so für ihn empfand.
    Es ist eher, als ob er mein Sohn wäre.
    Das war eine sehr seltsame Vorstellung, aber irgendwie traf sie genau zu. Sie konnte natürlich nicht mal annähernd seine leibliche Mutter sein, doch sie war dafür verantwortlich, dass Andy am Leben war. Als hätte sie ihn tatsächlich geboren.
    Alles, was er von nun an erlebte – gleich ob es gute oder schlechte Dinge waren –, würde er nur erleben, weil sie ihn gestern Nacht aus dem Haus befreit hatte.
    Wie seltsam.
    Seltsam, aber auch sehr angenehm.
    Jody ging zu ihm hinüber, beugte sich vor und sah ihn an. Er atmete leise. Sanft streichelte sie sein Haar.
    »Jetzt sind’s nur noch wir beide, Kleiner«, flüsterte sie.
    »Leise, sonst weckst du ihn noch auf«, flüsterte eine Stimme hinter ihr.

    Obwohl es eine vertraute Stimme war, zuckte sie zusammen. Sie sah sich um und bemerkte ihren Vater, der im Bogengang zum Esszimmer stand. Ein Mundwinkel war hochgezogen. Sein übliches Grinsen, das gar kein richtiges Grinsen war. Jedenfalls kein Ausdruck von Freude, sondern der bleibende Schaden, den die Patrone aus einer .22er in seinem Schädel angerichtet hatte. Sonst war er relativ unbeschädigt geblieben; die Narben waren unter seinem Haar verborgen. Auf dem Weg durch sein Gehirn hatte die kleine Kugel seine rechte Gesichtshälfte sozusagen völlig umgepolt. Wenn er ernst war, hatte es den Anschein, als würde er höhnisch grinsen. Wenn er glücklich war, machte sich ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht breit, das ihn etwas zurückgeblieben aussehen ließ.
    Aber Jodys Ansicht nach hatte die Kugel das Aussehen ihres Vaters nur verbessert.
    In einem Buch, das sie einmal gelesen hatte, wurde behauptet, dass alle Menschen ausnahmslos entweder wie Schweine oder wie Wiesel aussahen. Doch ihr Vater schien nicht in dieses Schema zu passen. Er ähnelte sehr stark einem Gorilla.
    Schon vor der Schussverletzung hatte er eine richtige Verbrechervisage gehabt.
    Was äußerst ungerecht war.
    Obwohl er so bedrohlich wirkte, war er einfühlsamer, feinfühliger, zuvorkommender und netter als jeder andere Mann, den Jody kannte. Die Kugel erschien ihr wie ein Pinselstrich Gottes, mit dem er dem Mund ihres Vaters einen fröhlicheren Ausdruck gegeben hatte.
    Manche Leute fanden dieses Dauergrinsen sehr unheimlich. Jody nicht. Ihrer

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