Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
und was ich empfinde, wenn ich an meine tote Schwester denke und so. Das war schon ziemlich bizarr. Ich meine, ich war ja damals auch erst dreizehn, verstehen Sie?“ Ein flüchtiger Schatten verdunkelte ihr Gesicht und für einen Sekundenbruchteil schimmerte etwas wie Schmerz durch die nichtssagende Fassade. Eine alte Wunde. Eine Kindheit, die an einem strahlenden Julitag abrupt geendet hatte.
Mein Leben war zu Ende in diesem Sommer , hatte Hannah Bender gesagt, und Winnie kam der Gedanke, dass diese banale Wahrheit möglicherweise auch auf ihre Tochter zutraf. Auf die schöne Rosemarie mit den bernsteinblonden Haaren. „Was taten Sie, wenn Lilli Sie belästigte?“, erkundigte sie sich, ein wenig freundlicher als zuvor.
„Ich scheuchte sie weg.“
„Haben Sie sich nicht über ihre Anteilnahme gewundert?“
Rosemarie Wilnowskis Blick wurde nachdenklich. „Nein“, sagte sie. „Hätte ich sollen?“
Winnie antwortete mit einer Gegenfrage: „Was für ein Mensch war Lilli, mal abgesehen von ihrer Neugier in Bezug auf das, was mit Ihrer Schwester geschehen war?“
„Du liebe Güte, ich weiß nicht.“ Ihre Stirn glättete sich ein wenig. „Ich hatte nicht besonders viel zu tun mit ihr.“ Sie blickte auf einen von ihren Kartons hinunter. Strohsterne und Engel für ein kommendes Weihnachten, das angesichts der Gluthitze vor dem Fenster unendlich fern schien. „Außerdem ist sie mir nie ganz geheuer gewesen.“
„Warum nicht?“, hakte Winnie nach.
„Ach, ich weiß nicht“, sagte Rosemarie Wilnowski noch einmal. „Sie war manchmal so komisch.“
„Was heißt das, komisch?“
„Anders eben.“ Ihr Gesicht wurde wieder eine Spur verschlossener. „Aber die waren ja alle nicht ganz dicht. Die ganze Familie nicht. Diese Mutter mit ihrem Gesundheitstick und ihrem Gluckengetue … Ich meine, natürlich war das schlimm mit Lillis Schwester und so. Aber so was lässt sich doch wohl kaum vergleichen.“
Winnie hob irritiert den Kopf. „Was meinen Sie? Womit vergleichen?“
„Ach“, sie lachte, „mir fiel nur gerade ein, dass Lilli einen auf Leidensgenossin machen wollte, damals. Sie wissen schon, so nach dem Motto: Meine Schwester ist gestorben, deine Schwester ist verschwunden, warum tun wir uns nicht zusammen?“
Vielleicht hat die arme Lilli einfach nur eine Freundin gesucht, dachte Winnie bitter. Jemanden, mit dem sie reden konnte. Jemanden, der ihren Schmerz teilte. De r ihre Trauer verstand. Jemanden, den ein unerwarteter Schicksalsschlag aus dem normalen Leben herauskatapultiert hatte und der zu einem Außenstehenden geworden war. Genau wie sie selbst. Genau wie ich.
Sie schluckte und zwang sich, ihre Gedanken von Ellis Kassette loszureißen und wieder auf die schöne Rosemarie zu richten .
Das ist übrigens das einzige Foto, das ich mitgenommen habe, als ich von zu Hause wegging , plapperte Lilli Dahl in ihrem Kopf. Das Foto, auf dem ich vor der Kirche stehe, genau am selben Platz wie zuvor Rosemarie. Ich fand immer, dass ein bisschen was von ihrem Glanz noch da war und auf mich abfärbte .
Winnie suchte die trüben Augen ihres Gegenübers nach Resten von Meergrün ab, doch sie wurde nicht fündig. Der Glanz war dahin . Und sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob dieser Umstand sie freute oder doch traurig machte . „Lorna Dahl starb an einer Herzkrankheit, nicht wahr?“, fragte sie.
„Mhm. Ja, i ch glaube“, antwortete Rosemarie Wilnowski ohne besonderes Interesse. „Sie soll allerdings auch mal in einer Irrenanstalt gewesen sein.“
Oh nein, widersprach ihr Winnie im Stillen, das mit der Anstalt war Lilli!
„Aber vielleicht bringe ich da auch irgendwas durcheinander“, setzte Rosemarie Wilnowski hinzu, als habe sie die Gedanken ihrer Besucherin erraten. „In dieser Familie hatten sie ja alle Naslang was.“
Winnie beugte sich vor. „Warum?“
Die Augen der anderen blickten verständnislos. „Warum was?“
„Warum, glauben Sie, sind die Dahl-Kinder so häufig krank gewesen?“ Ihr Tonfall hatte etwas bewusst Provokantes. „Oder sollte ich vielleicht besser sagen: verletzt?“
Rosemarie Wilnowski überlegte lange, bevor sie antwortete. „Irgendwas ging da vor“, sagte sie schließlich mit einem merkwürdigen Ausdruck in der Stimme. „Irgendwas ziemlich Krankes, wenn Sie mich fragen.“
Winnie wartete, dass sie mehr sagen würde, aber sie schwieg. „Glauben Sie, dass Lillis Vater seine Töchter misshandelt hat?“
„Der Vater?“ Die Augenbrauenstriche
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