Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
zu machen. „Elisabeth Dahl wurde von Dezember 1971 bis März 1973 bei uns behandelt.“
Winnie rechnete eilig zurück. Da ist Lorna also schon vier Jahre tot gewesen, resümierte sie erstaunt. „Dezember 1971 bis März 1973?“, wiederholte sie noch einmal, um ganz sicher zu gehen. „Also insgesamt fünfzehn Monate?“
Die Psychologin bejahte.
Fünfzehn Monate, dachte Winnie schaudernd, fast so wie ich ... „Und weswegen war die genannte Patientin bei Ihnen in Behandlung?“
Die Ärztin zögerte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen das …“
„ Elisabeth Dahl liegt in einem Kühlfach in der Pathologie“, unterbrach Winnie sie eine Nuance schroffer als beabsichtigt. „Und von mir aus können Sie sich gerne an Dr. Gutzkow, die zuständige Rechtsmedizinerin, wenden und nachfragen. Aber wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren.“ Sie überlegte kurz, bevor sie in eindringlichem Ton hinzufügte: „Es geht um drei verschwundene Kinder.“
„Na schön“, entgegnete die Psychologin, obwohl sie ihre Skrupel offenbar noch immer nicht restlos abgelegt hatte. „Ich kann Ihnen ohnehin nicht viel sagen. Leider wurden damals, bei der Umstellung auf EDV, nur die Karteikarten mit den persönlichen Daten der Patienten und einigen kurzen Vermerken zur Diagnostik die entsprechenden Therapieempfehlungen aufbewahrt. Gesprächsprotokolle und Gutachten oder ähnliche Dokumente existieren nicht mehr.“
Winnie s Finger spielten mit dem Clip ihres Kugelschreibers. „Und die Diagnose bei Elisabeth Dahl lautete?“
„ In diesem Fall gibt es keine schriftlich fixierte Diagnose“, machte Dr. Frescobaldi ihre Hoffnungen mit einem Schlag zunichte. „Das einzige, was ich Ihnen mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Patientin unter dissoziativen Störungen wie Gedächtnisverlust und Halluzinationen gelitten zu haben scheint.“
Winnie machte sich eine entsprechende Notiz. „Können Sie mir sagen, wer der behandelnde Arzt gewesen ist?“ Sie wusste, sie griff nach einem Strohhalm. Aber es war vielleicht die einzige Möglichkeit, Lilli Dahls Geheimnis doch noch auf die Spur zu kommen.
„Elisabeth Dahl wurde von Prof. Möhlich persönlich betreut“, sagte Dr. Frescobladi. „Dem damaligen Leiter der Klinik.“
„Lebt er noch?“
„Nein, er ist vor fast zwanzig Jahre gestorben.“
Winnie musste an sich halten, nicht laut zu fluchen. „Dissoziative Störungen“, wiederholte sie stattdessen. „Was könnte einen solchen Zustand bei einem dreizehn- oder vierzehnjährigen Mädchen hervorrufen?“
„Da gibt es die vielfältigsten Ursachen“, antwortete die Psychologin ausweichend.
„Misshandlungen?“
„Zum Beispiel.“
„Wir haben Hinweise darauf, dass Lil … dass Elisabeth Dahl bereits als sehr kleines Kind körperlich und psychisch misshandelt wurde“, erklärte Winnie. „Wäre es in einem solchen Fall möglich, dass die Störungen erst sozusagen zeitversetzt, das heißt mit einer Verzögerung von acht oder zehn Jahren auftreten?“
Dr. Frescobaldi räusperte sich. „Das wäre durchaus denkbar, wenn auch nicht besonders wahrscheinlich.“
„Und bräuchte es dazu etwas wie einen Auslöser?“
Sie schwieg einen Augenblick. „Nicht unbedingt“, sagte sie dann. „Möglich wäre auch, dass sich die Persönlichkeitsveränderung, von der wir sprechen, zunächst weitgehend unbemerkt vollzogen hat und erst in einem kritischeren Alter offen zutage trat.“
„Sie sprechen von der beginnenden Pubertät?“
„Genau.“
„Aber es könnte ebenso gut auch einen konkreten Anlass für dieses Zutagetreten gegeben haben?“, beharrte Winnie, während ihre Gedanken wie wild hin und her sprangen: Edda Bender war im Juli 1971 verschwunden. Und fünf Monate später war Lilli Dahl wegen dissoziativer Störungen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden …
„Denken Sie an etwas Bestimmtes?“, erkundigte sich Dr. Frescobaldi im selben Augenblick folgerichtig.
„Nehmen wir mal an, Elisabeth hätte etwas Schlimmes gesehen …“
„Was genau meinen Sie mit etwas Schlimmes ?“
„Den Mord an einem anderen Kind vielleicht.“
Die Psychologin schien nachzudenken. „Posttraumatischer Stress wäre durchaus in der Lage, dem Ausbruch einer solchen Persönlichkeitsstörung Vorschub zu leisten“, sagte sie nach einer Weile, und ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass die hypothetisch formulierte Erklärung, die die fremde Kommissarin ihr angeboten hatte, ihr Interesse geweckt hatte.
Winnie
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