Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Adern, als werde es von den Schlägen eines riesigen Vorschlaghammers getrieben. Jetzt galt es. Sie wusste, sie durfte sich keinen Fehler erlauben. Nichts Falsches sagen. Nichts übersehen. Der Mann, der Ann-Kathrin Jehninger in seiner Gewalt hatte, war unberechenbar.
Mit einem kurzen Blick auf das Schild neben der Tür vergewisserte sie sich, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Dann drückte sie auf die Klingel.
Nichts.
Kein Laut von drinnen.
Keine Regung.
Sie klingelte erneut, doch auch dieses Mal verhallte der Ton ungehört zwischen den kahlen Wänden.
Er ist zu Hause. Er muss zu Hause sein. Er ist die ganze Nacht Bus gefahren. Und in ein paar Stunden muss er schon wieder ran. Wer hätte da noch Energie, das Haus zu verlassen? Noch dazu bei dieser Hitze?
Ihre Augen glitten über das weißlackierte Sperrholz. Die Tür verfügte über einen Spion. Stand er jetzt dort, auf der anderen Seite? Sah er sie an? Ihre Hand tastete nach der Waffe in ihrem Rücken.
Versau das hier nicht. Mach alles genau, wie du es gelernt hast. Und erlaub dir bloß keinen Fehler!
Aus den Augenwinkeln sah sie Verhoevens Gesicht in der Ecke des Treppenabsatzes auftauchen. Sie trat einen Schritt zur Seite, um aus dem Blickfeld von Vondancks Spion zu kommen, und machte eine fragende Geste in seine Richtung.
Was jetzt? Warten wir? Soll ich reingehen?
Seine Lippen formten die Worte „Kommen Sie zurück“, doch Winnie hatte keine Gelegenheit mehr, der stummen Anweisung Folge zu leisten, denn auf der anderen Seite der Tür hatte sich etwas bewegt …
Für einen Augenblick verharrte sie wie erstarrt. Dann wich ihre innere Anspannung einer tiefen, beinahe gespenstigen Ruhe. Cool bleiben. Funktionieren. Und hundertfünfzigprozentig nach Vorschrift vorgehen. Du darfst nichts tun, was die Ermittlungen gefährden könnte, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Das Leben der Kleinen. Die Beweiskette. Es muss alles stimmen, sonst müssen wir ihn am Ende wieder laufen lassen .
Sie hörte ein leises Kratzen, als ob etwas beiseite geschoben wurde. Eine Sicherheitskette vielleicht. Oder ein zusätzlicher Riegel. Dann ging die Tür auf.
Der Mann stand so, dass sein Gesicht halb im Schatten lag. Trotzdem erkannte Winnie ihn sofort. Derselbe Mann wie auf Miriam Lauterbachs Phantombild! Ein blasses, beinahe jungenhaftes Gesicht. Glattrasiert. Keine Brille. Ungefähr einen Meter achtundsiebzig groß, schätzte sie auf die Schnelle.
Sie trat auf ihn zu und wollte eben den Spruch herunterbeten, den sie sich für diesen heiklen Augenblick zurechtgelegt hatte, als sie den Geruch registrierte. Einen süßlich-metallischen Geruch, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Vondanck bemerkte ihren entsetzten Blick und hob entschuldigend die Achseln. „Sie wollte nicht still sein, verstehen Sie? Nicht einmal, als ich ihr sagte, dass die Nachbarn uns nicht hören dürfen.“
„Was meinen Sie?“ Winnie hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihr nachgab. „Von wem sprechen Sie?“
„Von dem Mädchen“, antwortete er so leise, dass s ie ihn kaum verstand. „Deswegen sind Sie doch hier, oder nicht?“
Sie antwortete nicht, sondern versuchte, an ihm vorbei einen Bl ick in die Wohnung zu erhaschen.
Es war vollkommen still. Nur irgendwo in weiter Ferne tickte eine Uhr.
„Sie liegt im Wohnzimmer am Ende des Flurs“, murmelte Vondanck mit einem Lächeln, das Winnie als absolut grauenerregend empfand. „Wollen Sie sie sehen?“
Sie ging nicht auf sein makabres Angebot ein, sondern zog ihre Waffe und richtete sie – entgegen jede Vorschrift – direkt auf sein Gesicht. Auf den Punkt zwischen seinen Augen. Und am liebsten hätte sie einfach abgedrückt. „An die Wand!“, schrie sie ihn an. „Sofort! Und die Beine auseinander!“
Vondanck leistete ihrem Befehl ohne Zögern Folge. Die Muskeln in seinem Rücken zitterten. Sie sah es unter dem Hemd, als sie ihn mit geübten Griffen nach versteckten Waffen abtastete und ihm anschließend ebenso distanziert wie unsanft von hinten in den Schritt fasste.
Auf der Treppe polterten die Schritte ihrer Kollegen heran.
Winnie trat ein Stück zurück und beobachtete wie in Trance, wie Ueckelen dem Busfahrer beide Arme auf den Rücken drehte und ihm Handschellen anlegte.
Verhoeven und Brüning waren bereits an ihnen vorbei, die Waffen im Anschlag.
Winnie Heller zweifelte keine Sekunde daran, was sie finden würden. Und doch fühlte sie auf einmal vollkommen irrational etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Eine
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