Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
tun mussten, erleichterte, wenn man sich einen Ort erhielt, an den einem die Schrecken, die dieser Job mit sich brachte, nicht folgen konnten. Der tabu war. Ausgeklammert.
Aber so leicht, wie er gehofft hatte, ließ sich der Schnitt nicht vollziehen.
Er seufzte und nahm sich vor, zumindest den versäumten Dank für Ninas Geschenk gleich morgen früh nachzuholen. Dann wandte er seine Gedanken wieder den Informationen zu, die seine Kollegin ihm hatte zukommen lassen.
Viola Krempinski …
Im Augenblick war das nicht viel mehr als ein Name.
Viola Krempinski und Edda Bender …
Vor seinem inneren Auge erschien wieder das Gesicht des blonden Mädchens, das an einem sonnigen Julitag in den Wald gegangen und nie wieder zurückgekehrt war. Das Mädchen, das im Wald verschwand, dachte er. So hatte Yvonne Paland es ausgedrückt. Ob sie noch lebte, Edda Bender? Immerhin hatte auch Lilli Dahl dreißig Jahre lang gelebt, ohne dass es jemand bemerkt hätte.
Die Leute hier dachten, sie wäre tot …
Verhoeven verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen. Die Sandalette, die die Spürhunde gefunden hatten, war ein schlechtes Zeichen, so viel stand fest. Um das zu sehen, musste man kein Polizist sein.
Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus , flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn.
Er hatte „Hänsel und Gretel“ erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal im Original gelesen. Vorher hatte er nur die pädagogisch behutsamere Nacherzählung aus seiner eigenen Kinderzeit gekannt, und er erinnerte sich gut daran, wie entsetzt er über das Ausmaß an Realismus gewesen war, mit dem die Gebrüder Grimm die Eltern des Geschwisterpaares gezeichnet hatten. Da war keine Mutter, die sich über das Abhandenkommen ihrer Kinder die Augen ausweinte. Kein Vater, der seines Lebens nicht mehr froh wurde, weil sein kleiner Junge und sein kleines Mädchen im Wald verlorengegangen waren. Nur List und Egoismus und Berechnung. Schließlich hatte das Geld, das der Vater nach Hause brachte, kaum für die Eltern allein gereicht.
Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los …
Mit entschlossenen Schritten kehrte Verhoeven zum Schreibtisch zurück, wo er Sven Brünings Handynummer wählte, die er sich am Vormittag in seinen Kalender notiert hatte. Er musste eine Weile warten, doch dann meldete sich der Kollege von der Vermisstenabteilung doch. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Gelächter. Eine Kneipe vielleicht. Oder ein Restaurant.
„Entschuldige die späte Störung“, sagte Verhoeven.
„Kein Problem.“ Brüning sprach ziemlich laut, vermutlich, um den Lärm im Hintergrund zu übertönen. „Der Malt und die dazugehörige Dame können ein paar Minuten warten.“
Verhoeven lächelte und nahm den Hörer in die andere Hand. „Ich wollte nur mal hören, ob die Untersuchungsergebnisse von Corinna Schilling inzwischen vorliegen.“
„Sie ist nicht vergewaltigt worden“, entgegnete Brüning ohne Zögern.
„Okay.“ Verhoeven wartete. „Aber?“
„Tja, wenn wir das wüssten ...“ Er klang, als hätte er sich in der Zwischenzeit eine Zigarette zwischen den Lippen geschoben. „Fest steht nur, dass das Mädchen keine äußerlichen Verletzungen hat. Nicht mal ’n Bluterguss.“
Eigentlich müssten wir uns jetzt beide freuen, dachte Verhoeven. Aber er freut sich ebenso wenig wie ich. Unsere Erfahrung macht uns misstrauisch. Und wahrscheinlich werden wir Recht behalten. Leider.
„Konntet ihr das Mädchen denn schon befragen?“
Brüning lachte wieder sein frustriertes Lachen. „Sie bleibt ein oder zwei Nächte im Krankenhaus . Zur Beobachtung. Der behandelnde Arzt hat uns auf morgen vertröstet. Er meint, man müsse dem Kind Zeit lassen zu realisieren, dass es wieder in Sicherheit ist. Die Mutter allerdings behauptet, dass ihre Tochter sich irgendwie eigenartig benimmt, seit sie wieder da ist.“
„Was heißt das, eigenartig?“
„Verstört.“
„Verstört?“
„Anscheinend spricht sie nicht“, ließ Brüning sich widerwillig zu erklären herab, und Verhoeven fragte sich, ob es nur ein Gefühl war oder ob er von ihrem Gespräch allmählich die Nase voll hatte.
„Spricht sie denn sonst?“
„Sie ist vier“, entgegnete sein Gesprächspartner, als sei dieser Umstand allein schon Erklärung genug. „Und nach allem, was ihre Mutter uns erzählt hat, steht ihr kleines Mundwerk normalerweise nur still, wenn sie schläft.“
„Aber seit sie
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