Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
ich weiß.“ Wismut schlug nach einer Fliege, die sich auf seiner Schulter niedergelassen hatte. „Aber es gab natürlich `ne ganze Menge Gerede, wie Sie sich denken können. Am besten, Sie besorgen sich die Akte, wenn die Sache Sie so sehr interessiert.“
„Und danach?“ Sie tauchte wieder ein Stück ab und ordnete ihre Beine neu, die ein ganzes Stück auseinander geglitten waren. Irgendetwas Spitzes bohrte sich in ihren Zeh, als sie nach einem neuen Halt suchte. „Ist danach noch mal ein Kind verschwunden?“
„Nein, nie wieder.“ Er schüttelte den Kopf. „ Das heißt … Bis auf dieses Mädchen am Dienstag. Aber die ist ja Gottlob wieder da.“
Winnie nickte. Oh ja, Corinna Schilling war wieder bei ihren Eltern. Aber gab diese Tatsache wirklich Anlass zur Beruhigung?
12
Verhoeven war mit Buckel Gassi gegangen und hatte sich anschließend in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, wo auch der Hundekorb stand, den seine Schwägerin geschickt hatte und der sich zum allgemeinen Entsetzen als rotsamtenes Miniatur-Sofa mit goldenen Troddeln an den Armlehnen entpuppt hatte. Nina war nach den Aufregungen des Tages in einen tiefen, erschöpften Schlaf gesunken, und Silvie stand noch immer in der Küche und spülte das Kaffeegeschirr. Das gute, das nicht in die Spülmaschine durfte.
Ihre Eltern waren vor einer Stunde gefahren, aber die Spannung, die seit Buckels Erscheinen zwischen ihnen lastete, hatte sich auch dann nicht gelöst. Verhoeven wusste, dass er eigentlich in die Küche gehen müsste. Mit ihr reden, sich auseinandersetzen. Aber er brachte es einfach nicht über sich, das Arbeitszimmer zu verlassen.
Stattdessen stand er auf und trat an das weit geöffnete Fenster.
Draußen mussten es noch immer an die dreißig Grad sein. Er sah die großzügig geschnittene Einfahrt hinunter. Die Straße dahinter sah nackt aus. Schutzlos. Zumindest kam sie ihm heute so vor. Kein Zweifel, irgendetwas beunruhigte ihn. Etwas, das ihm begegnet war, irgendwann an diesem merkwürdigen Tag. Etwas, das gesagt oder nicht gesagt worden war. Ein Umstand, den er nicht zu fassen oder auch nur näher einzugrenzen vermochte. Ging es um Fennrich und seine Reaktionen? Oder hatte es doch eher mit diesen verschwundenen Mädchen zu tun? Mit Edda Bender und diesem anderen Kind, von dem sie bislang nichts als einen Namen wussten? Er schüttelte ratlos den Kopf. Winnie Heller hatte ihn vor einer halben Stunde angerufen und berichtet, dass sie möglicherweise auf einen weiteren Vermisstenfall gestoßen war.
Wieder ein Mädchen.
Viola Krempinski.
„Ich wollte mir die Akte geben lassen, aber sie ist anscheinend nicht mehr hier“, hatte seine Kollegin hinzugesetzt. „Die Kollegen fordern sie an.“
„Und in welchem Jahr soll das gewesen sein?“, hatte er gefragt.
„1977“, hatte sie geantwortet. „Vielleicht auch 1978. Der hiesige Kollege war sich da nicht ganz sicher. Aber so oder so würde es zu unserer Ringelsocke passen, nicht wahr?“
Verhoeven hatte „Ja“ und „Bis morgen“ gesagt und aufgelegt, um sich gleich darauf schamhaft daran zu erinnern, dass er sich eigentlich noch einmal für Ninas Geburtstagsgeschenk hätte bedanken müssen. Immerhin hatte Winnie Heller den Geschmack seiner Tochter voll und ganz getroffen, und ihr „Vögel unserer Heimat erkennen und bestimmen“-Buch samt passender CD mit siebenunddreißig Vogelrufen war – sah man von dem selig auf Madeleines Kitsch-Sofa schlummernden Buckel einmal ab – das absolute Highlight des Tages gewesen.
Diese Frau hört mir tatsächlich zu, dachte Verhoeven mit derselben Verwunderung wie schon einmal an diesem Tag. Sie hört zu, wenn ich von meiner Familie erzähle, und sie merkt sich Details, auch wenn sie meiner Tochter bislang nur ein einziges Mal begegnet ist.
„Kommt sie uns denn auch bald mal besuchen?“, hatte Nina gefragt, bevor sie zu Bett gegangen war.
„Du meinst Frau Heller?“
Seine Tochter hatte genickt und ihn mit diesem hingebungsvollen Funkeln in den Augen angesehen, das sie normalerweise für Dominik Fett-Semper reservierte. „Ja, ich meine Winnie.“
„Ich weiß nicht, ob sie Zeit hat“, hatte er geantwortet, ausweichend, weil er wusste, ob ihm die Idee, Winnie Heller zu sich nach Hause einzuladen, gefiel.
Nach Grovius’ Tod hatte er sich felsenfest vorgenommen, das zu trennen. Berufliches und Privates. Warum, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht, weil er der Überzeugung war, dass es die Arbeit, die sie
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