Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
schien bei weitem nicht alles schlecht gewesen zu sein, was die beiden verbunden hatte – diese Botschaft sickerte aus jeder Zeile, die Lilli Dahl über ihre Ehe schrieb.
„Komm schon, Lilli“, murmelte Winnie, indem sie immer neue Teilstücke in die verbliebenen Lücken einpasste. „Erzähl’ mir mehr von dir!“
Unter ihren Augen wuchs die Rückseite eines Eintrags nach und nach zu einem kompletten Briefbogen zusammen. Als der letzte Schnipsel an der richtigen Stelle saß, legte Winnie eine zweite Folie über die erste, um das fragile Gebilde zu fixieren, dann drehte sie ihre mühsam erarbeitete Kollage um. Die Notiz begann genau wie die anderen, die sie gefunden hatten:
12. Juli 2007
Liebe Welt da draußen,
ich habe furchtbar schlecht geträumt, heute Nacht: Ich war wieder im Wald. Und all das. Wirklich, es war fast wie früher. Als Kind hatte ich auch andauernd Alpträume, und ganz schlimm wurde es nach Edda Benders Verschwinden. Es war eine ganz komische Stimmung damals, irgendwie unheilvoll, und es endete erst, als ich herkam. Dabei hatten sie Jasper sogar in Verdacht, damals. Und ich weiß auch noch, was mein Vater sagte, als es zum ersten Mal hieß, jemand habe Edda an dem bewussten Tag mit Jasper gesehen: „Dann ist sie so gut wie tot“, sagte er, so sachlich, als ob es sich nicht um ein Mädchen aus der Nachbarschaft, sondern um eine völlig Fremde handeln würde. Jemanden, den man einfach abschreiben kann.
Winnie runzelte die Stirn. Fennrich war mit Edda Bender am Tag ihres Verschwindens gesehen worden. So hatte es auch in der Akte gestanden. Jemand hatte ausgesagt, das Mädchen gesehen zu haben, wie es sich mit Fennrich unterhielt. Irgendwann am frühen Vormittag war das gewesen, auch daran erinnerte sie sich. Aber Edda Bender war doch viel später noch einmal gesehen worden, oder nicht? Sie rieb sich die Stirn. Hatte es nicht einen weiteren Zeugen gegeben? Jemanden, der Edda noch am Mittag in der Nähe eines Waldstücks namens Uhlenforst gesehen haben wollte?
Und dort hatten die Spürhunde am nächsten Tag doch auch den Schuh gefunden.
Edda Benders Sandalette …
Oh ja, so war er, mein Vater. Kümmerte sich um gar nichts, außer um Lorna. Aber die war ja sowieso immer in irgendeiner Klinik. Da hatte er eigentlich gar nicht viel zu tun, wenn ich’s recht bedenke. Am Anfang dachte ich, meine kleine Schwester hätte vielleicht einfach genauso viel Pech wie Mama und ich. Aber irgendwann kam ich dahinter, dass Lornas Klinikaufenthalte anders waren.
Die Leute im Ort sagten, sie sei verrückt, aber das stimmte nicht. Es war ihr Herz, mit dem etwas nicht in Ordnung war. Nicht ihr Kopf.
Auf dem Kaminsims stand mal ein Foto von uns beiden, Lilli und Lorna. Und die Leute verwechselten uns ständig, aber eigentlich sahen wir uns überhaupt nicht ähnlich. Aber halt, ich wollte ja von meinem Alptraum erzählen.
Ich war also wieder im Wald und … Verdammt noch mal, dieser Tisch macht mich rasend! Er wackelt wie die Hölle, und das, seit ich denken kann. Manchmal schiebt Jasper ein Stück Pappe unter eins von den Beinen, dann geht es etwas besser. Doch nach einer gewissen Zeit sind diese Pappen immer irgendwie verschwunden, und niemand weiß, wohin.
Aber ich merke, dass ich schon wieder den Faden verloren habe … Ach ja, ich glaube, ich wollte etwas über Eddas Schwester erzählen. Über Rosemarie …
Verwirrt hielt Winnie inne. Gütiger Gott, was für ein konfuses Zeug dieses Mal! Bei all diesen Schwestern musste man ja den Überblick verlieren …
Rosemarie war mit Abstand das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. So eins, bei dem alles stimmt, mit riesigen, meergrünen Augen und langem, seidigem Haar, nicht einfach blond, sondern gleich bernsteinblond und so weiter. Lorna hatte nämlich irgendwann mal so eine Kette bekommen, zum Trost, dass sie nicht eingeschult werden konnte, weil sie wieder mal ins Krankenhaus musste, daher wusste ich, wie Bernstein aussieht. Jedenfalls sehe ich sie noch vor mir – Rosemarie, nicht Lorna –, wie sie am Weißensonntag auf den Stufen vor der Kirche steht in ihrem wunderschönen Kommunionkleid, und die Rosen an ihrem Haarreif sind so perfekt wie aus Marzipan.
„Glotz Rosi nicht an“, sagte meine Mutter und knuffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite. „Siehst du nicht, dass ihr das auf die Nerven geht?“
Aber ich konnte ja gar nicht anders, als sie anzustarren, so wunderschön war sie, und ich war
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