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Die Jahre des Schwarzen Todes

Die Jahre des Schwarzen Todes

Titel: Die Jahre des Schwarzen Todes
Autoren: Willis Connie
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Vesper. Oder es war das Mittagläuten. Badri hatte ihr gesagt, er habe keine Ahnung, wieviel Verschiebung es geben würde. Er hatte das Absetzen verschieben und eine Serie von Überprüfungen der Parameter machen wollen, aber Mr. Gilchrist hatte gesagt, die Wahrscheinlichkeitsrechnung habe eine maximale Verschiebung von 6,4 Stunden vorausgesagt.
    Sie wußte nicht, zu welcher Zeit sie durchgekommen war. Es war Viertel vor elf gewesen, als sie ins Laboratorium gekommen war – sie hatte Mrs. Montoya nach der Uhrzeit gefragt –, aber sie konnte nicht sagen, wie lang es danach gedauert hatte. Ihr war es wie Stunden vorgekommen.
    Das Absetzen war für die Mittagszeit geplant gewesen. Wenn sie rechtzeitig durchgekommen war und die Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmte, würde es sechs Uhr nachmittags sein, also zu spät für die Vesper. Und warum wurde so anhaltend geläutet?
    Es konnte zur Messe läuten, oder für ein Begräbnis oder eine Hochzeit. Soviel sie wußte, hatten im Mittelalter beinahe ständig Glocken geläutet: um vor Feinden oder Feuersgefahr zu warnen, um einem Kind, das sich verlaufen hatte, den Weg zurück zum Dorf zu weisen, sogar um Unwetter abzuwehren. Diese Glocke konnte ohne besonderen Grund läuten.
    Wenn Mr. Dunworthy hier wäre, würde er überzeugt sein, daß es ein Begräbnis war. »Um 1300 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung achtunddreißig Jahre«, hatte er ihr erklärt, als sie ihn das erste Mal mit ihrem Wunsch bekannt gemacht hatte, ins Mittelalter zu gehen, »und man lebte nur so lange, wenn man Cholera und Pocken und Blutvergiftung überlebte, und wenn man kein verdorbenes Heisch aß, kein verseuchtes Wasser trank und nicht von einem Pferd niedergetrampelt wurde. Oder als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.«
    Oder erfror, dachte Kivrin. Sie fühlte sich schon steif vor Kälte, obwohl sie erst eine kleine Weile auf der Straße lag. Was sich so schmerzhaft in ihre Seite bohrte, fühlte sich mittlerweile an, als wäre es durch den Brustkorb gegangen und durchbohre nun ihre Lunge. Mr. Gilchrist hatte ihr eingeschärft, mehrere Minuten lang liegenzubleiben und sich dann mühsam aufzurappeln und langsam auf die Füße zu kommen, als sei sie aus Bewußtlosigkeit erwacht. Kivrin hatte gemeint, daß mehrere Minuten kaum ausreichend sein würden, vor allem im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeitsberechnung der Zahl der Reisenden auf dieser Straße. Sicherlich würden mehr als mehrere Minuten vergehen, bevor ein Wanderer des Weges käme, und sie wollte den Vorteil ihrer scheinbaren Bewußtlosigkeit nicht voreilig aufgeben.
    Und es war ein Vorteil, trotz Mr. Dunworthys Vorstellung, daß eine Hälfte Englands sich auf eine bewußtlose Frau stürzen würde, um sie zu vergewaltigen, während die andere Hälfte in der Nähe mit dem Scheiterhaufen wartete, auf dem sie sie zu verbrennen beabsichtigte. War sie bei Bewußtsein, würden ihre Retter Fragen stellen. War sie aber ohne Besinnung, würden sie über sie und über andere Dinge diskutieren. Sie würden beraten, wohin sie sie bringen sollten, und spekulieren, wer sie sei und woher sie gekommen sein mochte, Spekulationen, in denen sehr viel mehr Informationen steckten als in der simplen Frage »Wer bist du?«
    Aber nun spürte sie einen überwältigenden Drang zu tun, was Mr. Gilchrist vorgeschlagen hatte – aufzustehen und sich umzusehen. Der Boden war eiskalt, ihre Seite schmerzte, und in ihrem Kopf fing im Gleichklang mit der Glocke ein pulsierender Schmerz an zu pochen. Dr. Ahrens hatte ihr gesagt, daß das geschehen würde. Eine Reise so weit in die Vergangenheit würde die Symptome der Zeitverzögerung auftreten lassen – Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und eine allgemeine Störung des Tag-Nacht-Rhythmus. Sie fror jämmerlich. War auch das ein Symptom der Zeitverzögerung, oder war der Boden, auf dem sie lag, so gefroren, daß die Kälte innerhalb von Minuten ihren pelzgefütterten Umhang durchdringen konnte? Oder war die Verschiebung stärker, als der Techniker gedacht hatte, und es war wirklich mitten in der Nacht?
    Sie überlegte, ob sie auf der Landstraße liege. Wenn es sich so verhielt, sollte sie nicht liegen bleiben. Eines der Fuhrwerke, die diese Wagengeleise ausgefahren hatten, könnte sie in der Dunkelheit überrollen.
    Mitten in der Nacht läuten keine Glocken, sagte sie sich, und es drang zuviel Licht durch ihre geschlossenen Augenlider, als daß es finster sein könnte. Aber wenn die Kirchenglocke zur Vesper
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