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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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man fortan die Wahrheit sagen, wie sie es schon getan habe, als sie vor allen ein Beispiel gegeben habe, sie habe ihrer Familie gebeichtet und dabei nicht deren Achtung verloren, sondern statt dessen mehr dazugewonnen.
    Das sagte sie an jenem Wochenende zu Danton. »Ich war vollkommen aufrichtig, mein Sohn.«
    »Du beichtest einem machtlosen Ehemann, einem schwulen Sohn, einem zweiten, der ein Säufer ist, und einer Tante, die in einem Bordell geboren wurde. O ja, wie mutig!«
    Sie hatte ihn schon einmal geschlagen. Sie schwor, es nicht wieder zu tun.
    »Was soll ich dir über meinen Vater erzählen? Wenn du mit ihm schlafen würdest, könntest du ihm all seine Geheimnisse entlocken. Habe mehr Mut, Mama. Das sage ich dir in aller Freundschaft.«
    »Du bist ein kleiner Lump.«
    »Nein, ich hoffe, den Grad eines großen Lumpen zu erwerben, das siehst du dann schon, Junge, wie Kiko Mendive sagt, guatschatschatscharatscha! «
    Er machte einen Tanzschritt, zog die blau- und gelbgestreifte Krawatte fester und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Mamacita, mein Bruder und ich kommen in der Welt allein zurecht, jeder auf seine Art. Das ist sonnenklar. Wir werden später keine Last für dich.«
    Laura behielt ihren Zweifel für sich. Danton würde alle Hilfe der Welt brauchen, und weil die Welt keinem umsonst hilft, würde er dafür bezahlen müssen. Sie wurde von einer heftigen Abneigung gegen ihren jüngeren Sohn überwältigt und stellte sich überflüssige Fragen: Von wem hat er das? Was liegt Juan Francisco im Blut? Denn von mir…
    In Santiagos Leben begann eine fieberhafte Periode. Er vernachlässigte die Arbeit bei Rivera im Nationalpalast und machte aus dem Schlafzimmer in der Avenida Sonora ein Atelier voller provozierender Farben und Terpentin. Wenn man den Raum betrat, war es, als dringe man in einen barbarischen Wald aus Tannen, Kiefern, Lärchen und Terebinthen vor. Die Wände waren bekleckst wie eine konkave Fortsetzung der Leinwand, das Bett war mit einem Tuch bedeckt, das den liegenden Körper eines anderen Santiago verbarg, der schlief, während sein Zwillingsbruder, der Künstler, malte. Ein Vogelschwarm verdunkelte das Fenster, den ein derart unwiderstehlicher Ruf wie der Drang nach Süden zur Herbst-Tagundnachtgleiche hergelockt hatte. Beim Malen rezitierte Santiago laut, er selber wurde von so etwas wie einer Schwerkraft im Süden angezogen:
    »Ein Zweig ward geboren, inselgleich,
    ein Blatt nahm Schwertgestalt an,
    eine Traube rundete ihre Substanz,
    eine Wurzel senkte sich hinab in die Finsternis…
    Es war die Morgenhelle der Leguan-Echse…«
    Er deklamierte zusammenhanglose Dinge, während er malte: »Jeder Künstler ist ein gezähmtes Tier, ich bin ein wildes Tier.« Und das stimmte, er war ein Mann mit langer Mähne, einem kindlichen, jedoch spärlichen Bart, einer hohen, klaren, fieberhaft glühenden Stirn und Augen, die von solch leidenschaftlicher Liebe erfüllt waren, daß sie Laura erschreckten. Sie entdeckte in ihrem Sohn einen vollkommen neuen Menschen, in ihm »waren eingezeichnet der Erde Initialen«, weil ihr Sohn Santiago der »junge Krieger aus Dunkelheit und Kupfer« des Großen Gesangs war, den Pablo Neruda, der größte Dichter Amerikas, soeben in Mexiko veröffentlicht hatte. Mutter und Sohn lasen ihn gemeinsam, und Laura dachte an die nächtlichen Feuer in Madrid, die Jorge  Maura geschildert hatte, Neruda auf einem flammenden Dach unter den Bomben der faschistischen Luftwaffe, in einer europäischen Welt, die in den Zustand der elementaren Ode unseres fortwährend zerstörten und wiedererschaffenen Amerikas zurückgekehrt war, »tausend Jahre aus Luft, Monate, Wochen aus Luft«, »der erhabene Sitz des menschlichen Morgenrots, das höchste Gefäß, das die Stille barg: ein Leben aus Stein nach so vielen Leben«. Diese Worte nährten Leben und Werk ihres Sohns.
    Sie wollte gerecht sein. Ihre beiden Söhne hatten sie an den Extremen überflügelt, Santiago wie Danton wuchsen an den Orten der Dämmerung auf, beide waren »hohe Gefäße« für die verheißungsvolle Stille zweier erwachender Leben. Bisher hatte sie sich die Menschen, die älter als sie oder ihre Zeitgenossen waren, als erkennbare Wesen vorgestellt. Ihre Söhne waren auf wunderbare und abenteuerliche Weise ein Mysterium. Sie fragte sich, ob sie selber irgendwann auf ihre Verwandten so undurchschaubar gewirkt hatte wie heute ihre Kinder auf sie. Vergebens suchte sie eine Erklärung bei denen, die sie verstand, bei Maria de

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