Die Jahre mit Laura Diaz
viel mehr als ein halbes Jahrhundert her« –, hatte sich Juarez in der Hauptstadt gutorganisierten Anarchistengruppen gegenübergesehen, insgeheim waren sie zusammen mit den ungarischen, österreichischen, tschechischen und französischen Truppen eingedrungen, die den habsburgischen Erzherzog unterstützt hatten. Sie blieben, als die Franzosen abzogen und Maximilian auf Juârez' Befehl erschossen wurde. Sie hatten sich in sogenannten »Widerstandsgesellschaften« zusammengeschlossen, die vornehmlich aus Handwerkern bestanden. Schon 1870 wurde der Große Arbeiterverein Mexikos gegründet, danach, 1876, führte die bakunistische Geheimgruppe La Social den ersten allgemeinen Arbeiterkongreß der Republik Mexiko durch.
»Da siehst du, Junge, daß die mexikanische Arbeiterbewegung nicht erst gestern entstanden ist, obwohl sie gegen uralte koloniale Vorurteile ankämpfen mußte. Es nahm auch eine anarchistische Delegierte teil, Soledad Soria. Man wollte sie ausschließen, weil die Anwesenheit einer Frau die geltenden Regeln verletzte, wie man sagte. Der Kongreß hatte schließlich achtzig-tausend Mitglieder, stell dir das vor. Darauf kann man stolz sein. Dïaz hatte gute Gründe, als er mit der Unterdrückung anfing, die ihren Höhepunkt in der schrecklichen Strafaktion gegen unsere Mitkämpfer in Cananea erreichte. Don Porfirio begann gerade dort mit seinen Repressalien, weil die amerikanischen Konzerne, die die Kupfergesellschaft beherrschten, knapp hundert bewaffnete Männer aus Arizona herübergeschickt hatten, die Rangers, um das Leben und Eigentum der Amerikaner zu schützen. Es ist immer die alte Geschichte mit den Gringos: Sie besetzen ein Land, um Leben und Eigentum zu schützen. Und auch bei den Bergleuten war es das gleiche wie immer: der Achtstundentag, Löhne, Wohnungen, Schulen. Auch sie wollten ein Leben und Dinge besitzen. Man hat sie abgeschlachtet. Aber die Diktatur bekam dabei erste Risse, und die haben sich nie wieder geschlossen. Sie haben nicht damit gerechnet, daß ein einziger Riß ein ganzes Gebäude zum Einsturz bringen kann.«
Es begeisterte Juan Francisco, einen aufmerksamen Zuhörer zu haben, der zudem noch sein eigener Sohn war, wenn er an die heroischen Episoden der mexikanischen Arbeiterbewegung erinnerte, die ihren Höhepunkt im Streik der Textilarbeiter 1907 in Rio Blanco fanden, wo Yves Limantour, Dïaz' Finanzminister, die französischen Unternehmer unterstützte, um nicht von der Zensur genehmigte Bücher zu verbieten und Passierscheine für das Betreten und Verlassen der Fabrik zu verlangen, in denen man den Lebenslauf jedes Arbeiters und seine rebellische Haltung verzeichnete, als wäre die Fabrik ein anderes Land.
»Wieder war es eine Frau, sie hieß Margarita Romero, die den Marsch zum Fabrikladen anführte und ihn anzündete. Die Armee rückte an und ermordete zweihundert Arbeiter. Die Truppen konzentrierten sich in Veracruz, und dann bin ich gekommen und habe den Widerstand organisiert…«
»Und vorher, Papa?«
»Ich glaube, meine Geschichte beginnt mit der Revolution. Vorher hatte ich keine eigene Biographie, Sohn.«
Er nahm Danton mit in die Büros der CTM; dort, in einem Kämmerchen, erhielt Juan Francisco häufig Anrufe, die immer mit einem »Jawohl!«, »Wie Sie meinen«, »Sie bestimmen, Señor« endeten, und danach ging Juan Francisco in den Kongreß, um die Anweisungen des Präsidialamtes und der Ministerien an die Abgeordneten der Arbeiterbewegung weiterzugeben.
Damit brachte er den Tag zu. Doch auf den Wegen vom Büro des Gewerkschaftsverbandes zum Parlament und zurück ins Büro entdeckte Danton eine Welt, die ihm nicht gefiel. Alles wirkte wie ein großer Jahrmarkt geheimer Absprachen, wie ein Ballett von Vereinbarungen, die von oben, von den wirklichen Machtinstanzen, diktiert und unten, im Kongreß und in den Gewerkschaften, mechanisch nachgebetet wurden, ohne daß man darüber diskutierte oder sie anzweifelte, vielmehr geschah das alles in einem nicht enden wollenden Reigen von Umarmungen, Schulterklopfen, ins Ohr geflüsterten Geheimnissen, versiegelten Briefumschlägen, gelegentlichen Lachsalven, ordinären Ausdrücken, die offenkundig bezweckten, die beeinträchtigte Mannesehre der Funktionäre und Abgeordneten zu retten, immer neuen Einladungen zu Festessen, die ihren Höhepunkt um Mitternacht im Haus von La Bandida finden mochten, verständnisinnigem Augenzwinkern bei Fragen, die mit Sex und Zaster zu tun hatten, und Juan Francisco bewegte sich
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