Die Jahre mit Laura Diaz
Fackeln aus Stroh und Reisig, Lichter in den Bergen, und sie stockte, biß sich auf die Unterlippe, als wollte sie die Erinnerung an Jorge Maura zurückhalten, wie er zwanzig Jahre zuvor im Café de Paris mit Gregorio Vidal und Basilio Baltazar zusammensaß, geschützt durch die Boheme-Atmosphäre des Cafés an der Avenida del Cinco de Mayo, doch sobald sie den Mund aufmachten, waren sie den gnadenlos wütenden Elementen ausgesetzt, wie Hyänen und Ochsen, wie der Wind und die Lichter in den Bergen.
»Ich bin Laura Dïaz, die Fotografin. Kann ich Ihnen helfen?«
Die schwarzgekleidete Frau wandte sich ab, betrachtete Basilio Baltazars leeres Bild und sagte zu Laura: »Wenn du diesen Mann kennst, gib ihm Bescheid, daß ich zurück bin.«
Endlich lächelte sie und zeigte ihre schlimm zerstörten Zähne.
XXII. Plaza Rio de Janeiro: 1965
Santiago Lopez-Ayub, der Enkel von Laura Dïaz, zog Weihnachten 1965 gemeinsam mit seiner jungen Freundin Lourdes Alfaro in die Wohnung seiner Großmutter. Das Apartment war alt, aber geräumig, das Gebäude ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts, das die unerbittliche Umgestaltung der pastellfarbenen Stadt und ihrer zweistöckigen Häuser überlebt hatte, wie sie Laura im Jahre 1922 begegnet war, als die junge Ehefrau in der Hauptstadt ankam. Jetzt wuchs der Bundesdistrikt Mexico wie ein blinder Riese und zermalmte alles, was sich ihm in den Weg stellte, er zerstörte die französische Architektur des 19. Jahrhunderts, die klassizistische Architektur des 18. Jahrhunderts und die barocke Architektur des 17. Jahrhunderts. In einem großen Countdown wurde die Vergangenheit aufgeopfert, bis man zur Bodenschicht der aztekischen Stadt selbst vorstieß, die wie eine offene Wunde unerträglichen Vergessens, Elends und Leids zuckte.
Laura wollte sich nicht nur die Unverschämtheiten ihres großzügigen, wenn auch durchaus nicht uneigennützigen Sohns Danton ersparen, als sie seine Hilfe ablehnte, in das alte Gebäude an der Plaza Rio de Janeiro zog und die Wohnung nach ihren Bedürfnissen umbaute – als Wohnstätte, doch auch als Dunkelkammer und Archivraum mit Regalen für die Bilddokumente. Zum erstenmal in ihrem Leben verfügte sie über eine eigene, ihr gehörende Wohnung, den berühmten room of one's own, den Virginia Woolf verlangt hatte, damit die Frauen über ihren eigenen heiligen Bereich, ihre eigene winzige Bastion der Unabhängigkeit herrschen können: eine Insel ihrer Souveränität.
Seit sie das Haus an der Avenida Sonora verlassen hatte – auf dem Weg vom achtundfünfzigsten zum siebenundsechzigsten Lebensjahr –, war Laura daran gewöhnt, allein und frei zu leben. Sie hatte einen Beruf, war eine von Erfolg und Ruhm verwöhnte Frau, und so fühlte sie sich nicht von der neuen Jugend bedrängt, die ihr Santiago und Lourdes brachten, von der Natürlichkeit, mit der die Hausarbeiten unter den dreien aufgeteilt wurden, vom unerwarteten Abwechslungsreichtum, den ihre Tischgespräche bekamen, dem wunderbaren Austausch der Erfahrungen und Sehnsüchte und der Solidarität, die ihnen das gemeinsame Leben ermöglichte, seit der dritte Santiago vor Lauras Tür gestanden und zu ihr gesagt hatte: »Großmutter, ich kann nicht mehr bei meinem Vater bleiben, und ich habe kein Geld, um allein mit meiner Freundin zu leben. Ich bin dein Enkel Santiago, das hier ist meine Freundin Lourdes, und wir sind gekommen, um dich um ein Dach über dem Kopf zu bitten.«
Santiago lächelte und zeigte die starken, weißen Zähne Dantöns, dabei hatte er die sanften, melancholischen Augen seines Onkels Santiago. Er bewegte sich elegant und sogar selbstgefällig, was Laura an den falschen Stutzer erinnerte, den Scarlet Pimpernel der Veracruzaner Revolution, Santiago den Älteren.
Lourdes Alfaro war schön und bescheiden, sie trug, wie heute üblich, eine Hose und an einem Tag ein T-Shirt mit dem Bild Che Guevaras, am nächsten eines mit dem Bild Mick Jaggers, sie hatte eine lange schwarze Haarmähne und nicht das geringste Make-up. Sie war klein und wohlgebaut, eine »zierliche Frau, die gar manchen Vorzug hat«, ein Zitat aus dem »Buch der rechten Minne«, an das Jorge Maura erinnert hatte, als er sich liebevoll über Laura Dïaz' teutonisch große Gestalt lustig machte.
Die Anwesenheit der jungen Verliebten in der Wohnung genügte, um Lauras Gemüt aufzuheitern, mit offenen Armen empfing sie ein Paar, dus jetzt ein Recht auf ein Glück hatte, nicht erst nach zwanzig unglücklichen Jahren
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