Die Jahre mit Laura Diaz
den weiten Ärmeln verbirgt, meinst du nicht? Na ja, ein Bein ist für immer kaputt. Eine Busstange hat sich mir in den Rücken gerammt und ist durch die Scheide wieder herausgekommen. Der Aufprall war so gewaltig, daß mir sämtliche Kleider heruntergerissen wurden, kannst du dir das vorstellen? Meine Kleider waren weg. Ich lag blutend, nackt und zerschlagen da. Und dann, Laura, kam das Außerordentliche. Auf mich ist Gold herabgeregnet. Mein nackter, zerschlagener, am Boden liegender Körper wurde mit Goldstaub bedeckt.«
Sie steckte sich eine Zigarette der Marke Alas an und ließ ein rauchgetränktes Lachen hören.
»Ein Handwerker im Bus hatte ein paar Pakete mit Goldstaub dabei, als die furchtbare Sache passierte. Ich war zerschlagen, aber mit Gold bedeckt. Was hältst du davon?«
Laura dachte, die Fahrt nach Detroit mit Frida und Diego fülle ihr Leben derart aus, daß ihr keine Zeit für irgend etwas anderes bliebe, nicht einmal für einen Gedanken an Xalapa, ihre Mutter, die Kinder, die Tanten, ihren Mann Juan Francisco, ihren Geliebten Orlando, Carmen, die Geliebte ihres Geliebten, ihre »Freundin« Elizabeth – alles blieb so weit zurück wie die traurige, armselige Grenze in Laredo und davor die Wüste und die Hochebene von Mexiko, wo man ganz allein darauf achten mußte, wie Frida mehrmals sagte, »sich vor den Dreckskerlen zu schützen«.
Laura betrachtete die schlafende Frau und fragte sich, ob Frida sich allein zu schützen vermochte oder ob sie Diego bei sich brauchte, diesen unerschütterlichen Mann, der seine eigene Wahrheit, aber auch seine eigene Lüge besaß. Sie versuchte sich vorzustellen, was die Männer ihres Lebens über einen solchen Mann gesagt hätten, die Vertreter von Ordnung und Moral wie ihr Großvater Felipe und ihr Vater Fernando, die kleinen Ehrgeizlinge wie Juan Francisco, die gescheiterten Verheißungen wie ihr Bruder Santiago, die neuen Verheißungen wie ihre Söhne Danton und der zweite Santiago, das ewige Rätsel, das Orlando war, und, um den Kreis zu schließen und wieder zu eröffnen, der unmoralische Mann, der ihr Großvater ebenfalls gewesen war, schließlich hatte er es über sich gebracht, eine uneheliche Tochter, eine Mulattin, im Stich zu lassen: Was wäre aus dem zarten, reizenden Tantchen Maria de la O geworden, wenn der starke Wille ihrer Großmutter Côsima und das ebenso beharrliche Mitgefühl ihres Vaters Fernando sie nicht gerettet hätten?
Rivera saß am Fenster des Speisewagens und erzählte phantastische Lügengeschichten über seine Herkunft – einmal war er der Sohn einer Nonne und einer verliebten Kröte, dann wieder eines Hauptmanns der konservativen Armee und der wahnsinnig gewordenen Kaiserin Charlotte –, und er erinnerte sich an sein phantastisches Pariser Leben mit Picasso, Modigliani und dem Russen Ilja Ehrenburg, der einen Roman über Diegos Pariser Jahre veröffentlicht hatte, »Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mexikaners Julio Jurenito«, in dem er dessen aztekische kulinarische Vorliebe für Menschenfleisch, insbesondere das der Tlaxcalteken, ausführlich schilderte – diese Verräter hätten es verdient, in Schweineschmalz gebraten zu werden! –, immerzu Lügengeschichten, und auf den großen Papierblättern, die auf dem Tisch im Speisewagen ausgebreitet waren, entwarf er riesig und detailliert das in Detroit geplante Wandbild, sein Hohelied auf die moderne Industrie.
Laura entdeckte einen erregend neuen, schöpferischen Mann, der zugleich phantasievoll und diszipliniert, fleißig wie ein Maurer, träumerisch wie ein Dichter, amüsant wie ein Jahrmarktskomiker und schließlich so grausam wie ein Künstler war, ein Künstler, der tyrannisch über seine Zeit bestimmen muß, ohne jede Rücksicht auf die Bedürfnisse der übrigen, auf ihre Ängste und Hilferufe… Diego Rivera malte, und die Tür zur Welt und den Menschen wurde versperrt, damit sich im Käfig der Kunst die Formen, Farben, Erinnerungen und Huldigungen einer Kunst emporschwingen konnten, die, so sehr sie sich auch selbst als sozial oder politisch bezeichnen mochte, vor allem Teil der Kunstgeschichte und nicht der politischen Geschichte wurde, die einer Tradition neue Wirklichkeit gibt oder ihr Wirklichkeit entzieht, und damit greift sie in jene andere Wirklichkeit ein, von der die meisten glauben, sie ströme ungehemmt wie ein Fluß dahin. Der Künstler weiß es besser: Seine Kunst spiegelt nicht die Wirklichkeit wider. Sie begründet sie. Und um dieses Werk auszuführen,
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