Die Janus-Gleichung
Augenblick später blickte er auf die Notiztafel hinunter und blinzelte so lange, bis er den Schirm nicht mehr verschwommen sah. Die Minuten verstrichen, während er sich zu beruhigen suchte. Die emotionale Qual ebbte allmählich ab und machte Verwirrung Platz, einem dumpfen Schmerz tief in der Kehle. Er nährte das winzige Körnchen Konzentration, bis er zu wachsen begann und alles andere überschattete. Während die Gleichung in seinem Gehirn langsam Gestalt annahm, starrte er auf die Tafel, aber seine Finger wollten die Tasten nicht berühren. Das Gerät sendete zweifelsfrei an eine andere Tafel in der Nähe, die von Sheth und seinen Experten beobachtet wurde. Falls er die Gleichung wirklich lösen konnte, bestand doch kein Grund, die letzte Formel vor dem allerletzten Moment preiszugeben.
Jill saß schweigend da, und Essian achtete nicht auf den Schweiß, der sich auf seiner Stirn sammelte, die Nase hinunterlief, um die Bögen seiner Nasenflügel rann und sich dann in den Kurven seiner Mundwinkel sammelte. Als er sie endlich gefunden hatte, erschien ihm diese endgültige Lösung so offensichtlich und einfach zu sein, daß er nicht begreifen konnte, warum er nicht schon vor Wochen auf sie gestoßen war. Er sagte kein Wort, schaute nur von der leeren Notiztafel hoch und fand Jills Augen, die ihn beobachteten. Sie öffnete den Mund, er schüttelte warnend den Kopf, behielt den bittersüßen Triumph noch einen Augenblick länger für sich. Sie würde zumindest eine Sache kaufen können, die Freiheit von den wichtigsten und persönlichsten Schreckensvorstellungen, die die Maschine in den Händen von Ameritec entfesseln würde. Und das hatte er sich auch redlich verdient.
Draußen vor der Tür war ein Geräusch zu hören, das andeutete, daß Sheth und die anderen bereits zurückkamen. Dann herrschte fast eine Minute lang Schweigen, und Essian verstand, daß irgend etwas für den Mann von Ameritec schiefgegangen war. Bevor er noch ahnte, was das zu bedeuten hätte, glitt die Tür auf.
Der Mann, wenn es überhaupt ein Mann war, der über die Schwelle trat, war allein. Er hatte eine groteske Gummimaske, die den Kopf eines Trolls darstellte, übergestülpt – wie Kinder sie zur Fastnacht tragen – und trug einen ausgebeulten Jumpsuit von der grauen Farbe, die für die Sicherheitskräfte von Ameritec typisch war. Er legte einen Finger an die dicken Lippen der Gummimaske, eilte erst zu Essian, dann zu Jill und befreite beide von ihren Fesseln. Ohne auch jetzt nur ein Wort zu sprechen, führte die Gestalt sie eilends aus dem Zimmer. Die beiden Wachen lagen ausgestreckt vor der Tür, der Kopf des einen ruhte auf dem Stiefel des anderen wie auf einem Kissen. Essian und Jill folgten ihm willenlos auf Zehenspitzen über ein kurzes Stück des Kellerkorridors, bevor sie der Troll in eine abzweigende Halle hineinwinkte. Aus der Richtung und der leichten Aufwärtsneigung schloß Essian, daß der Weg zu einem Tor an der äußersten Grenze des Städteturmes führen mußte. Ein Schrei, der hinter ihnen aufgeklungen war, wurde vom Echo verwirrend hin- und hergeworfen, das Licht erlosch und tauchte die drei in Dunkelheit. Fast sofort hielt ihr Retter einen Strahler in der Hand, der den Gang vor ihnen erleuchtete.
»Schnell«, stieß der Troll hervor, der Befehl wurde aber so tonlos hervorgestoßen, daß die Stimme völlig unpersönlich blieb. So schnell sie konnten, liefen sie weiter, und ihre Schritte hallten auf dem Betonboden. Als die Verfolger den Eingang des Tunnels erreicht hatten, waren ihre Stimmen mit stechender Deutlichkeit zu hören. Jill schrie auf und taumelte gegen Essian, als die Schockwelle sie beide traf und in die Knie zwang.
»Stunner«, murmelte Essian wütend, während er sich mühsam aufrichtete und sie nach sich zog. »Aber die Entfernung ist zu groß.«
Er wurde von einer Hand beiseitegeschoben, und in der Luft knisterte es, als ein Strahl aus dem Blaster an ihm vorbeizuckte und den Gang hinunterschoß. Vom anderen Ende war ein Aufschrei zu vernehmen, und dann drang Essian der stechende Geruch von Ozon in der Nase. Der Troll richtete die Lampe auf den Ausgang, der nur noch wenige Schritte weit entfernt lag, schaltete dann das Licht aus und versuchte die Luke tastend zu öffnen, als sie eine weitere Schockwelle nach vorne stolpern ließ. Dann standen sie auf einmal draußen in der kühlen Nachtluft. Die Tür fiel mit einem klingenden Laut ins Schloß, und der Troll richtete seinen Blaster solange auf die
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