Die Juden von Zirndorf
zwischen ihre beiden Hände und drückte die glühendheißen trockenen Lippen leidenschaftlich auf seinen Mund. Benjamin glaubte zu versinken, auf seiner Stirn perlte feiner Schweiß, der ihn gleich Nadeln verwundete. Er hörte Rahels Herz wie einen dumpfen Hammer pochen, die Wärme ihres Körpers strömte auf ihn über, ihre aufgelösten Haare umhüllten seinen Kopf. Und nun fielen nasse Tropfen auf seine Wangen nieder, und erst durch das laute Schluchzen des jungen Mädchens ward er schaudernd inne, daß es Tränen waren. Auf einmal stand sie auf, stieß den Knaben rauh von sich und eilte davon.
In der Rosengaß stand ein kleines grünangestrichenes Haus, darin wohnte der Studiosus Thomas Peter Hummel. Rahel tastete sich mühsam durch die Finsternis des Flurs. Plötzlich fiel ihr, sie wußte nicht warum, ein Vers aus dem Talmud Taanit ein: Und ich mache allen ihren Jubel still, ihre Feste, Monden und Sabbate. Heiserer Gesang scholl aus einem Raum im Hintergrund, dann kam ein wüstes Lärmen und Durcheinanderreden, Gläserklirren und Zurufe und auf einmal war es wieder ganz still. Eine weiche, schmiegsame Mittelstimme begann ein Lied zu singen; Rahel kannte die Stimme, die so verführerisch war und von der sie meinte, daß niemand ihr widerstehen könne. »Es ist ein' Ros' entsprungen aus einer großen Zahl,« – ein altes Lied voll Trauer und Sehnsucht. Wer es sang, mußte gewiß um der Liebe willen leiden. Es war, wie wenn ein Vogel gefangen sitzt, von dem man weiß, daß er nur durch Freiheit leben kann, und er sitzt in einem finstern Käfig und flattert sich die Flügel wund. Das Lied war schon lange zu Ende, aber Rahel stand immer noch regungslos da, und ein schmaler Lichtstreifen aus der Türspalte fiel auf ihre Stirn. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und lachend, in der einen Hand den Weinkrug, mit der andern der Schar von Studenten am Tisch in der übertriebenen Lustigkeit, die ihm eigen war, zuwinkend, trat Thomas Peter Hummel heraus. Das Zimmer war von Rauch erfüllt, denn die jungen Leute saßen alle mit Pfeifen im Mund und pafften fleißig drauf los. Hummel schloß die Tür und setzte mit einem Feuerstein ein Öllicht in Brand, um in den Keller zu gehen. Als er sich mit dem Lämpchen in der Hand umdrehte, gewahrte er Rahel. Er erbleichte. Sein kleiner Mund kniff sich zusammen, die Pupillen erweiterten sich wie bei einer Katze, und endlich stieß er einen dumpfen, fragenden Laut hervor. »Wir gehn fort von hier,« murmelte Rahel, und ihr Kinn sank gegen die Brust. Der Student lächelte schnell unter seinem schwarzen, koketten Bart hervor und sagte, in eine Stube könne er sie nicht führen, sie sollte mit ihm in den Keller kommen, und Rahel folgte ihm in den feuchten Keller hinab. Hummel ließ sie auf ein leeres Fäßchen setzen, nahm ihre Hand und begann zu sprechen. Das war seine Kunst, zu sprechen. Da vergaß er sich selbst und den andern, wußte hundert Gründe oder Dinge, an die kein Mensch dachte oder denken konnte, geriet vom zehnten ins zwanzigste und von da noch weiter, unterbrach niemals den freien Fluß der Rede, setzte, wo es anging, ein gelehrtes Zitat statt eigener Meinung oder brachte füglich eine bedeutsame Geschichte von spannender Erfindung an, kurz, er wußte das Wort so vollkommen zu gebrauchen, daß er es in knapper Zeit vermochte, ein großes Unglück höchst winzig erscheinen zu lassen und war im ganzen ein glänzendes Beispiel für den Ausspruch des alten Cicero über die Beredsamkeit. Dabei war seine Stimme leise und berückend, eindringlich und gleichsam erziehend. Seine Gesten waren rund und gefällig, gemessen und wohlwollend, besonders wenn er Daumen und Zeigefinger mit den Spitzen zusammendrückte und den Arm pendelartig auf- und abbewegte. Er schien nichts als Liebe und Uneigennützigkeit zu empfinden und alles, was er sagte, hatte Klang und Vernunft, sozusagen Hut und Schuh, und er vermochte einen Menschen zu trösten, daß er all seine Schmerzen vergaß und sich so vollgeredet fand, als habe er am Tisch des Großmoguls die köstlichsten Speisen gespeist.
Nach geraumer Weile und als von oben das ungeduldige Fußgetrampel der andern Studenten hörbar wurde, erhob sich Rahel und ging wieder. Draußen in der Nacht erinnerte sie sich dunkel, daß Thomas Peter ihr empfohlen hatte, die Juden zu warnen, es sei etwas im Werk; aber es ließ sie kühl. Sie fühlte sich wie das tote Werkzeug in einer fremden Hand. Sie dachte an den Geliebten, von dem sie eben auf so seltsame
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