Die jungen Rebellen
war es verboten, ja, ein schwerer Regelverstoß, sich für die nächste Stunde in Latein oder Geschichte vorzubereiten. Sie haben geistigen Kraftaufwand keineswegs verachtet, doch durfte dieser auf keinen Fall eigennützigen Zwecken dienen. Auch körperliches Renommieren unterlag diesem Gesetz. Tibor war ein ausgezeichneter Sportler, seine Leidenschaft galt dem Hoch- und Weitsprung; er konnte nicht widerstehen, im Weg stehende Stühle oder Zäune mit einem Satz zu überwinden. Die Lust am Springen wurde ihm zugestanden, allerdings nur, wenn die Höhen und Weiten seine Sprungkraft überstiegen und die Gefahr bestand, daß er sich im Sturz Schürfwunden zuzog.
Die Gegenstände häuften sich. Sie stapelten sich zunächst in Tibors Zimmer. Doch dieses Lager erwies sich vom Eintreffen des Fahrrades an als zu klein. Die Prockauers wohnten in einem ebenerdigen Haus, und das Zimmer der Jungen war nur über den Raum zu erreichen, in dem die kranke Mutter lag. Die Situation wurde dadurch etwas entschärft, daß sich die Fenster im Zimmer der zwei Prockauer-Jungen zum Hof hin öffneten und schwerere und sperrige Dinge durchs Fenster hineingereicht werden konnten. Auch waren die Fenster als Noteingang geeignet, doch mußte die Mutter in solchen Fällen abgelenkt werden. Während also die anderen Mitglieder der Clique umständlich durchs Fenster stiegen, saß meistens Ernő mit gefalteten Händen am Bett der Mutter, den Hut auf den Knien und den Blick gesenkt.
Im Zimmer von Lajos und Tibor konnte man sich kaum noch rühren. Die angesammelten Gegenstände bedeckten bereits den Tisch, die Betten, und sie stauten sich oben auf dem Schrank. Allmählich kam es in der Clique zu einer gewissen Rivalität. Ábel brachte Zangen und Pinzetten des Vaters mit, einen alten Photoapparat und Teile des Heiratsguts der Tante, die Wäschestücke waren mit lila Schleifen umwunden und kündeten, pergamentartig vergilbt, von unerfüllter Erwartung und nie geraubter Jungfernschaft. Aus Höflichkeit revanchierte sich Tibor für diese Akquisition Ábels mit den kompletten Reitutensilien seines Vaters. So machten sich manche Gebrauchsgegenstände der Haushalte auf, tauschten die Plätze, wanderten aus einer Wohnung in die andere. Das alles war immer noch Spiel, Kraftprobe. Tibor wachte manchmal in der Nacht schweißgebadet auf und sah sich im vollgeräumten Zimmer um: Er träumte, daß der Vater unverhofft heimgekehrt war und Aufklärung forderte über die Herkunft des Fahrrads, des Leinenfracks sowie der ärztlichen Gerätschaften. Mit einer wirklichen Gefahr aber sah sich vorläufig nur Béla konfrontiert, der Geld entwendet hatte. Es zählte nicht, daß er keinerlei praktischen Nutzen daraus zog.
Sie beschlossen, einen Platz für das Warenlager zu suchen. Bei aller Gutgläubigkeit und menschlichen Geduld der Tante fielen ihr doch in Ábels Zimmer der Reitsattel und das komplette Zaumzeug auf. Zudem fühlte sich die Gattin des Obersten in diesem Herbst wieder besser, sie sprach davon, das Krankenbett verlassen zu wollen. Unmittelbare Gefahr war nicht zu befürchten, denn Frau Prockauer drohte ihrer Umgebung zu Beginn jeder Saison an, aus dem Bett aufzustehen, sich auf die Beine zu
stellen und wieder zu laufen, doch war es seit Jahren bei dieser Ankündigung geblieben. Im Herbst besorgten sie schließlich einen Mietwagen und ließen sich eines Nachmittags zum Arabesque hinauskutschieren. Sie speisten in dem Lokal zu Abend. Der Einarmige machte sich zu einem Rundgang durch das Gebäude auf. Das Ergebnis seiner Inspektion war, daß er auf dem Zwischenstock Räumlichkeiten entdeckte, die zu mieten waren.
Das Arabesque stand auf einer Anhöhe mitten im ausgedünnten Wald, eine halbe Stunde Wagenfahrt von der Stadt entfernt; dahinter ansteigend in dichten Schlägen Kiefern-Stangenwald, dann kahl und felsig der Gebirgsrücken bis zum Gipfel hinauf, wo der die Illusion von Alpenlandschaft vermittelnde Schnee erst spät schmolz. Einst war hier ein Badebetrieb, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts im Sommer von den Bürgern der Stadt frequentiert wurde; rund um die Restauration fanden sich noch einige leerstehende, vernachlässigte Baulichkeiten. Ábel erinnerte sich schwach, daß die Familie vor langer Zeit, in den frühen Jahren seiner Kindheit, als seine Mutter noch lebte, einmal hier die Sommerfrische verbracht hatte. Aus der Quelle sprudelt auch heute noch säuerlich riechendes, schwefliges Wasser. Der lange muffige Speisesaal und die mit
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