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Die jungen Rebellen

Titel: Die jungen Rebellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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unverständlichen Spielchen hingegeben. Es war die Zeit des wirklichen Spielens. Ihre zweite Kindheit, eine zwar erregend schuldbewußte, doch weniger eingeschränkte, eine prickelndere und süßere Kindheit.
    Im Winter kamen sie schon in den frühen Nachmittagsstunden hier herauf, unmittelbar nach dem Mittagessen. Das Fahrrad wurde immer von demjenigen benutzt, der gerade an der Reihe war, als erster an Bord zu sein und den Ofen anzuheizen. Sie hatten bereits einen Vorrat an Tee, Rum, Likör und Tabak gehortet. Die Atmosphäre dieser Höhle war stark von Rum geschwängert, nach Ábels Beschreibung fühlte der Eintretende sich ganz so wie in einer Schiffskajüte. Er bestand darauf, daß jede Kajüte nach Rum zu stinken habe. Der Reitsattel lag auf dem Bett, daneben die Jagdflinte; man hätte denken können, daß der vagabundierende Zimmerinsasse, gerade erst einer Verfolgungsjagd entkommen, hier Unterschlupf gefunden hatte, wo er seine todmüden Knochen ausstrecken konnte, während sein gehetzter Gaul draußen im Schnee umherstreifte.
    Dieser Schlupfwinkel taugte für alles. Vier Wände und ein Dach überm Kopf, von dem weder die Väter noch die Lehrer, noch die Behörden eine Ahnung hatten: Hier konnte man endlich mit dem Leben beginnen. Und dieses Leben glich in nichts dem Dasein, das sie kannten, und hatte auch nichts gemein mit dem Dasein der Väter, dem sie so wenig abgewinnen konnten. Alles, was in ihrem Alltag unklar und unerledigt war, hier ließ es sich besprechen. Die Regeln, die ihre Kindheit eingeengt hatten, waren hier außer Kraft gesetzt.
    Sie waren schon lange keine Kinder mehr, und in diesem Raum entdeckten sie, daß sie etwas zu tun wagten, wofür sie sich in der Stadt, auch voreinander, geniert hätten: verschämt auch weiterhin Kind zu spielen, das Kind, das sie nie hatten sein dürfen. Die Welt der Erwachsenen konnten sie von hier, und nur von hier, scharf sehen, und sie begannen, ihre Erfahrungen auszutauschen. Der Einarmige spielte leidenschaftlich. Sein lähmendes, nervöses Lachen legte sich. Und nur in diesem Refugium geschah es gelegentlich, daß sie Ernő lachen sahen.
     
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    Hier fingen sie an, sich kennenzulernen. Diese verborgene, sichere Komplizenschaft, die sie aus der Stadt heraushob, gab ihnen Gelegenheit, sich auch auf andere Weise füreinander zu interessieren. Jeder hatte zu erzählen, »was einmal gewesen war«. Es erschien ihnen selbstverständlich, daß eben das, »was einmal war«, sich nur auf die Zeit bezog, als ihre Eltern noch Gewalt über sie hatten. Langsam begannen sie zu begreifen, daß Zusammengehörigkeit keineswegs Zufall ist, sondern Ursachen hat.
    Sie hielten sogenannte »Angstnachmittage« ab. Alle berichteten, was es war, wovor sie sich »in jener Zeit« am meisten gefürchtet hatten. Und sie erfuhren voneinander, daß jeder von ihnen eine Angst mit sich herumtrug, irgend etwas, worüber er bisher nicht geredet hatte. Diese »Ängste« lagen weit zurück, in undefinierbar ferner Zeit. An einem solchen Nachmittag, als es schon dunkel war und sie um den erkaltenden Ofen hockten, erzählte der Einarmige, daß er sich weder im Kugelhagel noch auf dem OP-Tisch des Feldlazaretts so sehr, so schrecklich gefürchtet habe wie damals, als er sieben war und durch die Glastür der Veranda den Vater sah, der sich gewaltsam der Mutter näherte, als sie verzweifelt miteinander rangen und die Mutter den Mann mit beiden Händen von sich stieß und in ihr Zimmer floh. In jenem Augenblick hatte er so große Angst, als müsse er gleich sterben. Während er darüber sprach, begann er zu stammeln, und der Schluckauf überkam ihn wieder.
    Béla, der in der Fensternische saß und zum leuchtenden Schnee hinaufsah, faßte seine Empfindungen auf ganz sonderbare Weise zusammen. »Es ist gut, sich zu fürchten«, sagte er.
    Doch fiel es ihm quälend schwer, den Sinn der »angenehmen« Angst zu erklären; während die anderen einen Weg zueinander suchten, spürte er über Wochen, sich langsam vortastend, dem Grund seiner Angst nach. Als er merkte, daß er in seinen Erinnerungen über eine ganz bestimmte Schamhaftigkeit nicht hinwegkam, stockte er und verstummte. Ábel und Ernő nahmen ihn ins Kreuzverhör.
    »Ich schäme mich«, wehrte er sich und litt.
    Sie gaben ihm zwei Tage Aufschub. Und Béla, der sich sonst über Ferkeleien in genüßlicher Ausführlichkeit ergehen konnte, verteidigte sich jetzt mit dieser merkwürdigen Scham. Seine Zurückhaltung überraschte die Clique um so

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