Die jungen Rebellen
noch weitere Türen auf, widerstrebend und quietschend öffnen sich schwere Klapptüren ohne Zahl. Der Schauspieler geht, das Licht in der Hand, leise pfeifend weit voraus, flötet die süßlichen Stackatotakte eines Refrains. Vor einer Milchglastür bleibt er stehen.
»Dies hier ist der Friseur.«
Er knipst das Licht an. »Setzt euch.«
An der Wand steht eine lange schmale Bank ohne Lehne, eine Ecke des Raumes ist durch einen von der Decke hängenden rotgestreiften Vorhang abgeteilt. Auf dem großen Holztisch steht, nach hinten gekippt, ein fleckiger Spiegel mit einer Sitzbank davor.
»Erweist dem Coiffeur die Ehre.« Er reißt mit einer Hand den Vorhang zur Seite. Dicht an dicht hängen an der Wand unzählige Perücken, blonde, brünette, angegraute, lockige, wellige und glatte –mit einem Ausdruck unsäglichen Jammers, ihrer Lebensbedingungen beraubt. Eine blonde Damenperücke mit zwei langen Zöpfen scheint sich nach der dazugehörigen Maid zu sehnen, die sich davongemacht hat. Die schwarze Mähne, die sonst dem Helden der Kuruzen in den Nacken wallt, hängt jetzt hoffnungslos und strähnig in die unsichtbare Stirn. Den von einem Kahlkopf abgenommenen glatten Skalp zieren beiderseits weiße Haarbüschel, wächserne Greisenohren verdeckend, die wohl so manches vernommen, ihre Geheimnisse aber für sich behalten haben. Jede dieser Perücken bewahrt sich etwas vom Charakter des Menschen, aus dessen Haarwurzeln sie einst gesprossen ist. Unter diesen Perücken wähnt man Hunderte und Aberhunderte von Gehenkten. Sie wecken die Erinnerung an ein lang zurückliegendes Gemetzel, das die Zeit, der mächtigste Henker, unter den Besitzern der Mähnen veranstaltet hat.
»Der Friseur besitzt eine übermenschliche Macht«, sagt der Schauspieler. »Er spielt auch ein wenig Natur.« Holt tief Luft. »Und ist noch viel geschickter als sie.«
Er setzt sich vor den Spiegel, besieht sich lange darin.
»Es gibt auch Perücken, die sogar selbst spielen.« Er zieht eine Tischlade heraus. »Diese hier, die blonde … Wie oft hat sie an meiner Stelle gespielt!« Blitzartig reißt er sich seine Perücke vom Kopf. Die Bewegung ist so heftig, die Wirkung so drastisch, daß sich alle auf der Bank aufrichten, wo sie stumm und gebannt hockten. Tibor hält sich die Hand vor den Mund. Sie wissen, daß der Schauspieler eine Perücke trägt und daß er sie je nach Saison zu wechseln pflegt. Manchmal war er verträumt blaßblond, manchmal südländisch schwarz. Die Geste, mit der er sich die Haare herunterzog, hat fast so etwas wie körperlichen Schmerz bei ihnen ausgelöst; wenn der Schauspieler sich mit einem heftigen Ruck einen Arm ausgerissen oder angefangen hätte, sich den Kopf abzuschrauben, sie wären nicht konsternierter gewesen. Der Schädel des Schauspielers ist wachsglatt und schneeweiß, hat etwas so Nacktes, so Leibliches, Unverhülltes, ist so schamlos entblößt, als habe er alle Kleider abgeworfen und stünde splitternackt vor ihnen.
Er streicht mit der Hand über die nackte, glatte Oberfläche, beugt sich gleichgültig zum Spiegel und betrachtet fachkundig seinen Kopf. »Man muß darauf achten«, sagt er, stülpt die blonde Perücke über eine seiner Fäuste und streichelt das Haarteil, »daß das Haar niemals mit Wasser in Berührung kommt. Das ist das wichtigste. Ihr seid noch jung, euch verrate ich es. Mich hat leider niemand rechtzeitig darauf hingewiesen. Es gibt Menschen, die beim Baden mit dem Kopf unter Wasser gehen und das nasse Haar dann mit Seife rubbeln. Das ist die größte Fahrlässigkeit, die man begehen kann. Viele befeuchten ihr Haar nach dem Waschen. Die Kopfhaut aber wird durchs Wasser schuppig, das Haar trocken, stumpf und brüchig. Geht nie mit Wasser an euer Haar. Es gibt exzellente Haarwässer und Trockenshampoos … Einen Augenblick.«
Er beugt sich zum Spiegel vor, ganz nah, betrachtet sein Gesicht mit zusammengekniffenen Augen. Vor dem Spiegel und ohne Perücke nimmt sein Gesicht eine gewisse Stumpfheit und Leblosigkeit an. Nur die Augen leuchten. Als habe der Schauspieler, indem er sich die Perücke vom Kopf riß, jeden Gesichtszug weggewischt, den das Leben und die Zeit ihm je eingeprägt haben, die Krähenfüße, jeglichen Ausdruck und jede Individualität: Jetzt ist er nackt, leer und tot, nur noch Masse, mit der er nach Belieben hantieren kann. Er nimmt die Nasenspitze zwischen zwei Finger und dreht seinen Kopf wie einen fremden Gegenstand hm und her. Ein Mensch, dem sie nie begegnet waren,
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