Die Jungfernbraut
sie vor Wut außer sich geraten. Lächelnd fragte sie: »Muß der Verband gewechselt werden?«
»Ja, morgen oder übermorgen müssen die Fäden gezogen werden.«
»Das kann ich gut. Weiß Gott, bei Ryders vielen Kindern habe ich Übung darin.«
»Wie viele Kinder hat dein Bruder denn?«
»Ich nenne sie immer seine Lieblinge. Ryder rettet Kinder aus schrecklichen Situationen und bringt sie ins Brandon House. Ich glaube, im Augenblick hat er etwa ein Dutzend, aber man weiß nie, wann eines hinzukommt oder auch auszieht, weil Ryder es in einer sorgfältig ausgesuchten Familie untergebracht hat. Weißt du, Colin, es ist manchmal zum Heulen, wenn man so ein armes Wurm sieht, das von einem betrunkenen Vater mißhandelt oder von einer genauso betrunkenen Mutter einfach irgendwo ausgesetzt wurde.«
»Ich verstehe. Zieh dich jetzt an, aber bitte deck mich vorher zu.«
Sie tat es widerwillig, und er schmunzelte unwillkürlich vor sich hin. Noch nie im Leben war ihm ein weibliches Wesen wie Joan begegnet. Ihr Interesse an seinem Körper war einfach frappierend.
Sinjun hängte eine Decke über eine offene Schranktür und kleidete sich dahinter an, wobei aber ihr Mund nicht Stillstand. Während sie frühstückte, sah sie ihm beim Rasieren zu, und sie war sehr enttäuscht, daß er ihr Angebot ablehnte, ihm beim Waschen zu helfen, und statt dessen verlangte, daß sie ihm den Rücken zukehrte und ihre Sachen packte. Immerhin erlaubte er ihr aber, einen Blick auf die Wunde zu werfen, die gut verheilte. »Gott sei Dank«, sagte sie. »Ich hatte solche Angst.«
»Es geht mir wirklich gut. Jetzt muß ich nur wieder zu Kräften kommen.«
»Das alles ist schon sehr merkwürdig.«
Er betrachtete dieses ungewöhnliche Mädchen, das keine Angst vor irgend jemandem oder irgend etwas zu kennen schien, das so tat, als gehörte ihm die ganze Welt, als könnte es sie nach seinen eigenen Wünschen umgestalten. Colin hatte bisher die Erfahrung gemacht, daß das Leben solchen Menschen sehr rasch ihre Illusionen und Kräfte raubte, aber er hoffte von ganzem Herzen, daß Joan ihren Optimismus noch lange bewahren möge. Sie war stark, kein ängstliches Fräulein, und dafür war er dankbar, denn ein zimperliches englisches Fräulein würde Vere Castle und dessen Bewohner nicht überleben, dessen war er sicher. Dann sah er in ihren Augen aber doch einen Anflug von Furcht, und dieser kleine Hinweis auf ihre Verletzlichkeit veranlaßte ihn, ihr nichts zu erzählen. Sie würde noch früh genug alles sehen und erfahren.
Gleich darauf lächelte und lachte sie aber wieder, und nicht einmal Mr. Mole, der Wirt des White Hart, konnte ihr die Stimmung verderben. Als der Mann beim Abschied eine zynische Bemerkung machte, drehte sie sich ungerührt um und erklärte streng: »Es ist wirklich ein Jammer, mein Herr, daß Sie so unliebenswürdig sind und keinen Anstand besitzen. Mein Mann und ich haben hier nur übernachtet, weil er krank ist. Ich versichere Ihnen, daß wir nie wieder herkommen werden, es sei denn, daß er wieder krank sein sollte, was aber unwahrscheinlich ist, weil . . .«
Colin griff lachend nach ihrer Hand.
Bald wurde er jedoch auffällig still, und Sinjun überließ ihn seinen Gedanken. Er blieb nicht nur den ganzen Tag über schweigsam, sondern auch am Abend und am nächsten Tag, und sie war klug genug, seine Geistesabwesenheit zu akzeptieren und ihn völlig in Ruhe zu lassen. Das einzige, was sie wirklich beunruhigte, war die Tatsache, daß er diesmal zwei Zimmer im Gasthof genommen hatte, ohne ihr eine Erklärung dafür zu geben, aber sogar das ließ sie auf sich beruhen.
Erst am Spätnachmittag, auf dem Weg nach Grantham, wandte er sich ihr in der Kutsche zu und ließ die Katze aus dem Sack. »Ich habe sehr gründlich über alles nachgedacht, Joan, und einen Entschluß gefaßt, der mir schwerfällt, der aber meine Schuldgefühle wenigstens ein klein wenig lindern kann. Ich habe die Gastfreundschaft deines Bruders mißbraucht, indem ich mich nachts mit seiner Schwester aus dem Haus geschlichen habe wie ein Dieb. Nein, nein, sei still und laß mich ausreden. Kurz gesagt — ich kann einfach nicht rechtfertigen, was ich getan habe, so sehr ich es auch versuche. Zumindest eines kann ich aber tun, was halbwegs ehrenhaft ist und mein Gewissen etwas entlasten wird. Ich werde dich erst in der Hochzeitsnacht entjungfern.«
»Was? Soll das heißen, daß du dich anderthalb Tage in Schweigen gehüllt hast, nur um diesen Unsinn auszubrüten?
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