Die Jungfrau im Lavendel
ich weiß, ein Amerikaner. Ein Mann aus Virginia. Darum heißen sie so. Virginia. Ich weiß nichts von ihm. Ihre Mamma wird Ihnen alles erzählen. Zuletzt war sie verheiratet mit einem Mann aus Brasilien. Der ist nun tot. Darum ist sie wieder in Europa.«
»Und warum … warum …«
Er ahnte, was sie fragen wollte.
Warum hat sie sich so viele Jahre nicht um mich gekümmert? Aber es war wirklich zu schwierig für ihn, das zu erklären. Das verstand er selbst nicht. Keine Italienerin würde ihr Kind auf diese Weise im Stich lassen.
Sie fuhren immer weiter. Dann, nach dem ersten Schock, begannen die widerstreitenden Gefühle in Virginia.
Wo fährt er eigentlich hin? Wer ist er eigentlich? Er ist ein Lügner, ein Lügner. Wie spät ist es denn? Hoffentlich erzählen Sabine und Barbara nichts. Wenn Teresa das wüßte. Sie würde lachen. Sie würde wieder einmal sagen: Du bist die ahnungslose Unschuld in Person, cara.
Wo fahren wir eigentlich hin? Ich muß zurück. Man wird mich fürchterlich bestrafen.
Ich will nicht zurück. Alle haben mich belogen. Ob die Oberin das alles weiß? Das von meiner Mutter, die nicht tot ist, und von meinem Vater, der nicht mein Vater ist.
Sie lügen, alle. Ich will sie nicht wiedersehen. Er lügt nicht. Dieser fremde Mann ist der einzige, der mir die Wahrheit sagt. Ich gehe nie zurück. Nicht ins Kloster. Der Mann, der nicht mein Vater ist, wollte, daß ich für immer im Kloster bleibe. Ich gehe nicht zurück.
Seltsamerweise hatte sie Vertrauen zu dem fremden Mann, von dem sie nicht einmal den Namen wußte. Er war gut zu ihr. Fragte, ob sie Kaffee wollte. Oder lieber etwas Kaltes? Etwas zu essen, eine Zigarette.
Da waren sie schon in Italien. Es war sechs Uhr, und sie war nicht im Kloster. Natürlich konnten Sabine und Barbara nicht schweigen, sie mußten alles erzählen. Es würde großen Ärger geben.
Nicht für mich. Ich komme nicht zurück. Ich bin undankbar, ich weiß. Ich werde schreiben, wenn ich bei meiner Mutter bin. Ob wir noch weit zu fahren haben?
Nun war sie irgendwo angekommen, ihre Mutter war nicht hier. Diese fremde Frau mit den dunklen Haaren und dem kurzen roten Kleid war seine Schwester. Die, von der sie den Paß gehabt hatte? Das konnte nicht stimmen. Er hatte sie also doch belogen.
Alles war Lüge. Ihre Mutter war tot. Sie war allein bei fremden Menschen. Sie wußte nicht einmal, wo.
Die Frau in dem roten Kleid blickte sie seltsam an.
Sie ist wie die Hexe in Hänsel und Gretel, schoß es ihr durch den Kopf. Eine sehr schöne Hexe. Und ich bin allein hier, nicht einmal Hänsel ist da.
Draußen tobte noch das Gewitter, ganze Sturzfluten schienen vom Himmel zu rauschen.
»Ich muß jetzt gehen«, murmelte Virginia. »Es ist kein Hänsel da.«
Schwankend stand sie auf, fiel vornüber und schlug mit dem Kopf auf die dicke hölzerne Tischplatte und sank seitwärts vom Tisch zu Boden.
Dido schrie vor Schreck, Danio sprang auf, kniete neben Virginia, drehte sie vorsichtig zur Seite.
»Sie ist bewußtlos. Schnell, hol Wasser.«
Mit einem nassen Tuch kühlten sie ihre Stirn, auf der sich eine Beule zu entwickeln begann.
»Sie hat zuviel getrunken. Erst die Fahrt, die ganze Aufregung und dann der starke Wein.«
»Du hast gesagt, ich soll ihr Wein geben.«
»Ich mache dir ja keinen Vorwurf.« Er befühlte vorsichtig Virginias Stirn. »Hoffentlich hat sie keine Gehirnerschütterung.«
»Na, so tief ist sie auch nicht gefallen.«
»Der Tisch ist aus massivem Eichenholz. Und sie ist ja nur so ein kleines Vögelchen.«
»Und was machen wir nun mit dem Vögelchen? Willst du sie in die Klinik fahren?«
»Unsinn. Du ziehst sie aus und bringst sie zu Bett.«
»Ich? Bin ich ihre Kinderfrau?«
»Gut, dann tue ich es. Sie macht die Augen auf. Virginia! Gina! Wie geht es dir?«
Virginia murmelte etwas Unverständliches und schloß die Augen wieder.
»Sie muß vor allen Dingen schlafen. Sie ist betrunken und hat sich weh getan. Morgen wird es ihr besser gehen.«
»Und wo soll sie schlafen?«
»Am besten in deinem Bett.«
»In meinem Bett? Ich denke nicht daran.«
»Morgen kannst du einen anderen Raum für sie herrichten, es sind genügend Lagerstätten im Haus. Heute ist dafür keine Zeit. Wir haben noch viel zu besprechen.«
»Das scheint mir auch so. Bist du nicht müde?«
»Nicht mehr. Ich habe keine Zeit zum Schlafen.«
Er brach sich noch einmal Brot ab, nahm eine Scheibe Schinken, ein Stück Melone und aß weiter.
Dido brachte Virginia in ihr Zimmer.
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