Die Jury
anstarrte. Er verzichtete darauf, einen direkten Blickkontakt herzustellen. Der Anrufer hatte sich am Montagmorgen nicht noch einmal gemeldet, doch ein Nicken von Lucien genügte, um die Vereinbarung zu bestätigen: fünfzigtausend Dollar, nach dem Urteil. Sisco kannte die Regeln und wartete auf eine Antwort. Er bekam keine. Lucien wollte erst mit Jake darüber reden.
»Nun, Doktor...«, fuhr Buckley fort. »Sie haben uns darauf hingewiesen, daß man das Ausmaß des Vorsatzes berücksichtigen muß, und außerdem kennen wir Ihre Diagnose bezüglich des geistigen Zustands von Mr. Hailey am 20. Mai. Haben Sie sich auf dieser Grundlage eine medizinisch exakte Meinung darüber gebildet, ob der Angeklagte zwischen Richtig und Falsch unterscheiden konnte, als er Billy Ray Cobb und Pete Willard erschoß sowie Deputy DeWayne Looney verletzte?«
»Ja«.
»Und wie lautet diese Meinung?«
»Mr. Hailey litt an keinen psychischen Störungen und war durchaus imstande, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden.«
»Haben Sie sich auf der gleichen Grundlage eine Meinung darüber gebildet, ob der Angeklagte die Konsequenzen seines Handelns überblicken konnte?«
»Ja.«
»Und wie lautet diese Meinung?«
»Mr. Hailey war sich seines Handelns vollauf bewußt.«
Buckley ließ den Block sinken und deutete eine höfliche Verbeugung an.
»Danke, Doktor. Das ist alles.«
»Kreuzverhör, Mr. Brigance?« erklang die Stimme des Richters.
»Nur einige Fragen.«
»Das dachte ich mir. Wir setzen die Verhandlung in fünfzehn Minuten fort.«
Jake ignorierte Carl Lee, verließ den Saal und eilte zur Bibliothek im zweiten Stock, wo Harry Rex auf ihn wartete und lächelte.
»Entspannen Sie sich, Jake. Ich habe mit allen Zeitungen in North Carolina telefoniert, und keine von ihnen hat über Ihr Haus oder Row Ark berichtet. Die Morgenzeitung von Raleigh brachte einen Artikel über den Prozeß, aber darin fehlen Einzelheiten. Carla weiß nichts, Jake. Für sie steht ihr hübsches viktorianisches Heim noch immer. Ist das nicht großartig?«
»Ja, wundervoll. Danke, Harry Rex.«
»Keine Ursache. Nun, es gibt da noch eine andere Sache. Ich bringe sie nicht gern zur Sprache, aber...«
»Heraus damit.«
»Sie wissen, wie sehr ich Buckley verabscheue. Ich hasse ihn noch mehr als Sie. Doch mit Musgrove komme ich ganz gut klar. Mit Musgrove kann ich reden. Gestern abend habe ich über folgendes nachgedacht: Vielleicht wäre es eine gute Idee, an Buckleys Stellvertreter heranzutreten und die Möglichkeiten einer Abmachung zu sondieren.«
»Nein!«
»Hören Sie, Jake... Es kann doch nicht schaden, oder? Wenn Sie auf schuldig plädieren und die Gaskammer vermeiden, haben Sie Carl Lee das Leben gerettet.«
»Nein!«
»Himmel, Ihren Klienten trennen nur noch achtundvierzig, Stunden von der Verhängung der Todesstrafe. Wenn Sie das bezweifeln, sind Sie blind und taub, Jake. Ich will Ihnen nur helfen.«
»Warum sollte Buckley zu einer Abmachung bereit sein? Er ist auf dem besten Weg, den Prozeß zu gewinnen.«
»Nun, vielleicht lehnt er ab. Aber ich könnte wenigstens herausfinden, wie er auf einen derartigen Vorschlag reagiert.«
»Nein, Harry Rex. Ausgeschlossen.«
Nach der Pause kehrte Rodeheaver in den Zeugenstand zurück. Jake trat ans Pult und musterte ihn. In seiner kurzen beruflichen Laufbahn als Anwalt war es ihm nie gelungen, sich innerhalb oder außerhalb des Gerichtssaals gegen einen Sachverständigen durchzusetzen. Angesichts seiner derzeitigen Pechsträhne beschloß er also, sehr vorsichtig zu sein.
»Die Psychiatrie betrifft den menschlichen Geist, nicht wahr, Dr. Rodeheaver?«
»Ja.«
»Es handelt sich um eine nicht sehr exakte Wissenschaft, oder?«
»Das stimmt.«
»Sie untersuchen jemand und erstellen eine Diagnose. Doch der nächste Psychiater schätzt den Zustand des Patienten vielleicht ganz anders ein.«
»Das ist möglich, ja.«
»Wenn zehn Psychiater einen Geistesgestörten untersuchen, so könnte das Ergebnis aus zehn verschiedenen Diagnosen bestehen, habe ich recht?«
»Das ist unwahrscheinlich.«
»Aber es wäre denkbar, nicht wahr, Doktor?«
»Ja. Ich nehme an, mit juristischen Meinungen verhält es sich ähnlich.«
»Aber in diesem Fall haben wir es nicht mit juristischen Meinungen zu tun, oder?«
»Nein.«
»Ist es wahr, Doktor, daß die Psychiatrie in vielen Fällen nicht feststellen kann, wo die Ursache für einen psychischen Defekt liegt?«
»Ja.«
»Und es geschieht häufig, daß Psychiater
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