Die Kälte Des Feuers
schloß die Tür leise.
Im Hauptraum waren die Schüler der Kampfsportklasse noch aktiver als vorher. Eine Gruppe versuchte, den koreanischen Lehrer anzugreifen, aber er blockierte ihre Hiebe und Tritte, sprang wie ein Derwisch umher und warf seine Gegner nacheinander auf die Matte.
Die Brünette hatte ihren silbernen Modeschmuck abgelegt, sie trug jetzt Reeboks, weitere Shorts, ein anderes T-Shirt und einen Büstenhalter. Sie streckte sich vor dem Tresen und machte einige Kniebeugen.
»Ein Uhr«, erklärte sie Holly. »Mittagspause. Aber ich esse nichts, laufe dafür vier oder fünf Meilen. Tschüs.« Sie trabte zur Tür und sprintete in den warmen Augusttag.
Holly ging ebenfalls nach draußen und blieb eine Zeitlang im Sonnenschein stehen. Erst jetzt fiel ihr die gute körperliche Verfassung vieler Kunden auf, die zwischen dem Parkplatz und den Eingängen des Supermarkts unterwegs waren. Seit etwa anderthalb Jahren wohnte sie in Portland und hatte ganz vergessen, welchen Wert die Südkalifornier auf ihre Gesundheit legten. Im Orange County gab es weitaus weniger Hängebacken, Bäuche, birnenförmige Hinterteile und Rettungsringe an den Hüften als im Nordwesten.
Gut auszusehen und sich gut zu fühlen waren wichtige Bestandteile des südkalifornischen Lebensstils. Gerade das liebte Holly so an dieser Region - und gleichzeitig haßte sie es.
Sie beschloß, ihr Mittagessen in der Bäckerei einzunehmen, stand dort vor der Vitrine und wählte ein Schokoladeneclair, ein cremegefülltes Törtchen mit Kiwi, ein Käsestück mit Nüssen und Sahne, ein Zimtrad und ein Orangenröllchen. »Und eine Diät-Coke«, sagte sie zu der Verkäuferin.
Sie trug ihr Tablett zu einem Fenstertisch, um die Parade sommerlich gekleideter, schlanker, geschmeidiger und sonnengebräunter Körper zu beobachten. Die verschiedenen Kuchenteile schmeckten hervorragend. Holly probierte sie nacheinander, genoß jeden einzelnen Bissen und war fest entschlossen, keinen Krümel übrigzulassen.
Nach einer Weile fühlte sie sich beobachtet. Zwei Tische entfernt saß eine dicke, etwa fünfunddreißig Jahre alte Frau, die Holly mit einer Mischung aus Verblüffung und Neid anstarrte. Auf ihrem Teller lag nur ein kleines Obsttörtchen, das diätetische Äquivalent eines besonders kalorienarmen Kräk-kers.
Holly spürte sowohl Mitleid als auch die Notwendigkeit, eine Erklärung abzugeben. »Ich kann der Versuchung einfach nicht widerstehen. Wenn ich scharf bin und mich nicht abreagieren kann, haue ich mir immer den Bauch voll.«
Die korpulente Frau nickte. »Mir ergeht es ebenso.«
Holly fuhr zu Ironhearts Heim am Bougainvillea Way. Inzwischen wußte sie genug über ihn, um eine direkte Begegnung zu wagen, und genau darin bestand ihre Absicht. Aber sie hielt nicht etwa auf seiner Zufahrt, sondern ließ den Wagen langsam am Haus vorbeirollen.
Instinktiv begriff sie, daß der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen war. Sie hatte ein umfassendes Bild von Ironheart bekommen, aber es schien nur vollständig zu sein. Irgendwo gab es einen fehlenden Faktor. Solange sie ihn nicht fand, mochte es gefährlich sein, einen direkten Kontakt herzustellen.
Sie kehrte zum Motel zurück und verbrachte den Rest des Nachmittags und auch den frühen Abend damit, am Fenster zu sitzen. Erst trank sie Alka-Seltzer, dann eine Diät 7-UP, starrte auf den kobaltblauen Pool im großzügig gestalteten Garten - und überlegte konzentriert.
Na schön, dachte Holly, bisher sieht die Story folgendermaßen aus. Ironheart ist ein Mann mit Kummer tief in seinem Herzen. Wahrscheinlich liegt es daran, daß er als zehnjähriger Knabe zum Waisen wurde. Nun, vielleicht hat er einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, über den Tod nachzugrübeln, insbesondere über die Ungerechtigkeit eines zu frühen Todes. Als engagierter Lehrer versucht er, Kindern zu helfen - weil niemand für ihn da war, als er mit dem Tod seiner Eltern fertig werden mußte. Dann begeht Larry Kakonis Selbstmord. Ironheart ist zutiefst bestürzt und fühlt sich verantwortlich. Der Tod des Jungen schürt in ihm das Feuer eines verdrängten Zorns: Zorn auf das Schicksal, die biologische Schwäche des Menschen - Zorn auf Gott. In einem Zustand tiefer Verzweiflung, der an eine Neurose grenzt, beschließt er, zu einer Art Rambo zu werden und den Kampf gegen das Schicksal aufzunehmen. Damit offenbart er eine Reaktion, die man zumindest als seltsam bezeichnen muß, vielleicht sogar als vollkommen
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