Die Kaempferin
den Kopf. »Westen hat gesagt, sie war nie auf seinem Anwesen, jedenfalls nicht, solange die Sucher sie beschattet haben.«
»Hätte er nicht sehen müssen, wie sie getötet wurde? Sind die Sucher ihr nicht mehr gefolgt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht mehr mit Westen gesprochen, seit sie getötet wurde. Aber die Sucher sind ihr nicht ständig gefolgt. Und den Kapitän der Sturmbö haben sie mit Sicherheit nicht mehr beschattet. Wir dachten ja, er wäreabgereist. Zuletzt ließ ich die Sucher nach den Chorl Ausschau halten und verschiedene Gebäude durchsuchen. Unauffällig, versteht sich.«
Ich wandte mich dem Hang zu und machte mich an den Aufstieg.
Yvonnes Geruch verlief nicht in einer geraden Linie, sondern schlängelte sich quer über die Straße hin und her, als hätte sie sich durch die Menschenmenge bewegt. Das Muster wirkte seltsam vertraut, bis ich plötzlich begriff, dass sie unterwegs Jagd auf Opfer gemacht und Geldbeutel aus Taschen, Gegenstände von Karren oder unbewachte Bündel gestohlen hatte. Allerdings hatte sie nie lange innegehalten. Am dichtesten hatte sich ihr Geruch an der Mündung einer Gasse gesammelt. Ich konnte fühlen, wie sie dort die Leute beobachtet hatte – ähnlich wie ich es Tausende Male am Siel getan hatte, wenn ich nach einer Gelegenheit Ausschau hielt.
Ich lächelte. Yvonne war eine Diebin gewesen. Abschaum wie ich.
Doch das Lächeln verblasste, als ich mir ihr verstümmeltes Gesicht, ihren verrenkten Hals, ihren in der Seitengasse achtlos liegen gelassenen, geschundenen Körper ins Gedächtnis rief, die Haare von Blut verklebt.
Als wir uns weiter den Hügel hinaufkämpften, veränderten sich die Gebäude. Die dicht nebeneinanderstehenden, kleinen Tavernen und Lagerhäuser, die am Kai vorherrschten, wichen breiteren Straßen und Häusern mit ummauerten Höfen und Torzugängen. Anfangs waren diese Höfe noch klein, kaum mehr als ein Landstreifen zwischen einem Holz- oder Metalltor und dem Haupthaus, doch je höher wir stiegen, desto weitläufiger und gepflegter wurden die Anwesen. Einige besaßen sogar Gärten. Die Dächer waren nicht mehr mit Holzschindeln gedeckt, sondern mit roten Lehmziegeln. Und je höher wir vordrangen, desto gerader verlief Yvonnes Weg. Hier hatte sie bestimmt nicht mehr gejagt; hier gab es zu wenig mögliche Opfer, zumeistBedienstete, die zu Fuß unterwegs waren und nichts besaßen, das zu stehlen sich lohnte, oder Reiche, die in Kutschen oder auf Wagen vorbeirasten.
Dann wurde der Geruch von Flieder und verbranntem Weihrauch immer schwächer.
Ich beschleunigte meine Schritte, folgte der dünner werdenden Spur und tauchte tiefer in den Fluss, bis der Geruch wieder stärker wurde. Galle stieg mir in die Kehle, wie ich es nicht mehr erlebt hatte, seit ich den Thron zerstört hatte, um die Ochea zu töten. Dennoch zwang ich mich, noch tiefer zu tauchen. Übelkeit nistete sich in meinem Magen ein. Der Geruch wurde immer stärker, und ich eilte weiter voran. Bald zitterten meine Arme vor Schwäche, und meine Beine wurden müde von der Anstrengung, so lange und beschwerlich zu laufen.
Und dann – obwohl ich so tief in den Fluss getaucht war, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken – erstarb der Geruch.
Ich schaute auf. Die letzten schwachen Fliederfetzen erzitterten und verwehten …
Und ich blickte auf ein Tor. Eine Nebenpforte eines ummauerten Anwesens.
Ich tauchte aus dem Fluss auf, schluckte den widerwärtigen Geschmack von Galle hinunter, streckte den Arm aus, um das Tor zu öffnen – und spürte, wie Daeriuns Hand sich auf meine Schulter senkte und mich zurückhielt.
»Was ist?«, fauchte ich und wirbelte zu ihm herum. »Sie sind von hier gekommen, aus diesen Mauern!«
»Wir können nicht hineingehen«, erwiderte er, die Züge eine starre Maske. Darunter jedoch entdeckte ich beherrschte Wut.
»Warum nicht?«
Er holte tief Luft, um sich zu stählen. Die anderen Protektoren hinter ihm wichen meinen Blicken aus.
Daeriun begegnete meinem Blick und antwortete mit den bedeutungsschweren Worten: »Weil das Fürstin Vaiana Parmatis Anwesen ist.«
»Wir haben gewusst, dass Vaiana Fürst Demasque unterstützt«, sagte Sorrenti. Er stand am Fenster meiner persönlichen Gemächer und schaute hinaus in den Regen, der sich in einen wahren Guss verwandelt hatte. Die Wolken waren so dicht, dass es den Anschein hatte, draußen wäre Nacht, obwohl es kurz vor Mittag am vierten Tag des Volksfests war.
Stirnrunzelnd wandte Sorrenti
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