Die Kaempferin
führte durch eine etwas dichtere Ansammlung von Häusern zu den Toren der Außenmauer.
Ich hatte Temall schon einmal durch Westens Augen gesehen und gewusst, dass der Hafen klein war, aber ihn nun selbst zu betrachten …
»Amenkor ist dreimal so groß«, fügte ich hinzu.
Avrell nickte. Seine Aufmerksamkeit galt den am Kai versammelten Menschen. »Dennoch ist Temall im Augenblick wesentlich wichtiger. Der Ort stellt gleichsam einen Prellbock zwischen uns und den Chorl dar. Deshalb können wir es unsnicht leisten, Herrscher Pyre zu verstimmen. Wir brauchen ihn als Verbündeten.« Er verengte die Augen. »Ich glaube, da will uns jemand begrüßen.«
Ich ließ den Blick über die Menschen am Pier wandern, als Bullick langsam ans Dock steuerte. Ich sah Westen und eine kleine Gruppe der Kundschafter …
Und bei ihnen Fürst Justaen Pyre mit einem großen Gefolge von Gardisten.
Meine Hand sank auf den Dolch. Plötzlich fühlte es sich nicht mehr einengend an, Avrell an der Seite zu haben, sondern beruhigend.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich.
Avrell richtete sich von der Reling auf und hüllte sich in seinen Rang als Oberhofmarschall wie in einen Mantel. »Wahrscheinlich will er uns nur willkommen heißen. Westen hat ihn über unsere Ankunft in Kenntnis gesetzt, und er hat noch nie eine Regentin außerhalb Amenkors gesehen.«
Doch in Avrells Stimme schwang Unsicherheit mit, und auf seiner Stirn bildeten sich Falten, während er sprach.
Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis wir angelegt hatten. Mittlerweile hing die Sonne tief über dem Horizont. Auf Avrells Anraten hatte ich eine Eskorte um mich versammelt, die aus Keven und von ihm ausgewählten Gardisten bestand, ferner aus Avrell, Heddan und Gwenn. Marielle und Trielle hatte ich damit beauftragt, die beiden anderen Mädchen dabei abzulösen, Ottul zu bewachen. Beide zappelten unruhig, bis Avrell sie mit einem barschen Wort schalt. Danach versuchten sie, erhaben und respektvoll zu erscheinen … was nur Heddan, der Älteren der beiden, einigermaßen erfolgreich gelang.
Bullick stieg als Erster die Landungsbrücke hinunter, begleitet von William, der seine Händlerjacke trug. Die beiden sprachen mit dem Hafenmeister, bevor sie sich tief vor Herrscher Justaen verbeugten. Ihre Worte verloren sich in der Ferne und den Windstößen vom Meer.
Dann traten die beiden beiseite, und Avrell ging zum Dock hinab. Keven stupste mich, ihm zu folgen, und blieb dicht hinter mir.
Plötzlich wünschte ich mir die vertrauten Grenzen Amenkors, die Nebenstraßen und Gassen der Unterstadt, die Hallen und Gänge des Palasts, die bröckelnden Häuserschluchten des Siels und den Fischgeruch des Kais. Sogar die unangenehme Huldigung der Menschen, die das Zeichen des Geisterthrones vor der Brust schlugen und sich verbeugten, wenn ich ihnen auf den Straßen begegnete, wären mir in diesem Augenblick recht gewesen.
»Fürst Justaen Pyre von Temall«, sagte Avrell, als er vor dem Gefolge des Herrschers stehen blieb. Westen und den übrigen Männern aus Amenkor schenkte er keine Beachtung. »Darf ich Euch die Regentin von Amenkor vorstellen?«
Nach außen zeigte Fürst Justaen keine Regung. Er verlagerte lediglich ein wenig die Haltung, damit er mit dem Kopf leicht nickten konnte. Im Fluss jedoch …
Im Fluss zuckte er überrascht zusammen, als ich vortrat. Es war ein kurzes Wabern der Strömungen, mehr nicht. Er roch nach Sorge, nach Angst und Argwohn wie die Luft vor einem Sturm, feucht und gefährlich. Nichts davon zeigte sich in seinem bärtigen Antlitz.
Doch er war grau. Keine Gefahr für mich persönlich, keine Bedrohung.
»Regentin, ich heiße Euch in Temall willkommen«, begrüßte er mich mit derselben ruhigen, aber knirschenden Stimme, an die ich mich durch Westens Ohren erinnerte. »Ihr seid nicht … was ich erwartet hatte.«
Ich fragte mich, was ihm beinahe herausgerutscht sein mochte, nickte jedoch zur Antwort. »Danke.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Sobald Kapitän Tristan und seine Gäste sich uns angeschlossen haben«, sagte er und deutete zur Verlässlich , die bereits am Kai vertäut wurde, »können wiruns zur Festung begeben. Ich habe eine Mahlzeit vorbereiten lassen.«
»Und dabei können wir uns über die Chorl unterhalten«, gab ich zurück.
Avrell runzelte die Stirn, Justaen hingegen nickte nur, als wäre dies offensichtlich. Während der Oberhofmarschall die anderen vorstellte, schaute ich zu Westen und bemerkte, wie er kaum wahrnehmbar den
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