Die Kaempferin
sich zur Ruhe und drehte sich mit mahlendem Kiefer dem vorüberziehenden Meer zu. »Ihr seid die Regentin. Alles, was Ihr tut, betrifft mich und Amenkor. Jedes gesprochene Wort, jede Tat … jeder Kuss.«
»Im Palast seid Ihr mir nie so besorgt vorgekommen«, spie ich ihm entgegen.
»Wir sind aber nicht mehr im Palast, Regentin«, entgegnete er frostig. »Alles, was Ihr tut, wird jetzt beobachtet und beurteilt. Man spricht über alles. Und alles wird Menschen berichtet, denen Ihr noch nicht einmal begegnet seid.« Er deutete zur Verlässlich , die rechts hinter uns segelte, so nah, dass ich die Gestalten der Männer an Deck und sogar Tristan in seiner Kapitänsjacke erkennen konnte. Sein Fernrohr funkelte im Sonnenschein, als er es senkte und sich abwandte.
Ich konnte nicht sicher sein, aber ich vermeinte, dass Brandan Vard neben ihm stand.
Plötzlich dachte ich daran, was William gesagt hatte – dass man Brandan nicht trauen konnte. Meine Eingeweide krampften sich zusammen.
»Was kümmert es die Leute, wen ich küsse?«, verlangte ich zu erfahren.
»Es kümmert sie, weil sie es irgendwie gegen Euch verwenden können. Wir sind unterwegs nach Venitte, Regentin, unddort kann Politik tödlich sein. Viel mehr noch als in Amenkor. Der Tod und das Blendwerk Alendors und der Händlergenossenschaft sind nichts im Vergleich zu dem, was die Fürsten und Fürstinnen am Hof von Venitte betreiben, womit sie sich die Zeit ver treiben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte Euch eher warnen sollen, schon als die Verlässlich im Hafen aufgetaucht ist. Aber ich vergaß, dass Ihr nicht im Palast aufgewachsen seid, dass Ihr nicht …«
»Dass ich nicht die wahre Regentin bin?«, beendete ich den Satz für ihn mit vernichtendem Tonfall.
»Dass Ihr nicht dafür ausgebildet worden seid, die Regentin zu sein«, entgegnete er scharf.
Wir verstummten beide. Avrell hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen, während ich innerlich schäumte.
Selbst ohne den Thron, selbst außerhalb von Amenkor war ich gefangen.
»Ihr müsst immer nachdenken, bevor Ihr handelt«, mahnte mich Avrell schließlich mit nunmehr wieder ruhiger Stimme. »Von all dem Protokoll und all den Warnungen, die ich Euch über Venitte eingebläut habe, ist das die wichtigste Lektion, die Ihr lernen müsst. Irgendjemand beobachtet Euch immer. Nichts, was Ihr tut, wird je geheim bleiben.«
Ich erwiderte nichts. Nach einer Weile wandte sich Avrell ab, ging davon und ließ mich alleine zurück.
Den ganzen Tag näherte sich mir niemand sonst. Die Begabten, die Gardisten und die Seeleute, sie alle machten einen weiten Bogen um mich. Irgendwann tauchte William auf und kam übers Deck in meine Richtung – dorthin, wo ich an der Reling stand –, doch Keven fing ihn ab, nahm ihn beiseite und führte ein längeres, überwiegend einseitiges Gespräch mit ihm. Williams Stirn blieb die ganze Zeit über zerfurcht. Offenbar war es ein ähnlicher Vortrag wie der, den Avrell mir gehalten hatte, denn William schaute zu mir, zu den umstehenden Seeleuten und Fahrgästen und schließlich zur Verlässlich .
Wenige Stunden vor Einbruch der Abenddämmerung kündigte Kapitän Bullick an, dass wir Temall binnen einer Stunde erreichen würden. »Wir haben zwar keine Chorl-Schiffe gesehen, aber ich möchte mich Temall trotzdem vorsichtig nähern«, fügte er hinzu. Hinter ihm sah ich in der Takelage Matrosen, die Segel einholten. Ein junges Besatzungsmitglied gab den drei anderen Schiffen Zeichen mit Flaggen. Die Trotzig krängte unter meinen Füßen, neigte sich nach Steuerbord und hielt wieder auf die Küste zu. In der Nacht zuvor waren wir so weit aufs Meer gesegelt, dass das Festland selbst mit dem Fernrohr nicht mehr auszumachen war.
Binnen einer Stunde segelten wir in den Hafen von Temall, ohne ein Chorl-Schiff gesichtet zu haben. Alle, auch ich, scharten sich am Bug. Keven und Avrell befanden sich links und rechts von mir, doch kalte Förmlichkeit ließ eine Mauer zwischen mir und dem Oberhofmarschall entstehen.
Ich runzelte die Stirn, als die Trotzig die Einfahrt umrundete. »Der Hafen ist … klein.«
Ein einziger Kai mit drei Docks erstreckte sich an einem felsigen Ufer. Nur zwei Schiffe lagen dort: ein Handelsschiff – halb so groß wie das von Bullick – war an einem Dock vertäut, und die Preis lag in der Bucht. Einige Gebäude – Lagerhäuser, eine oder zwei Tavernen sowie verstreut liegende Fischerhäuser, eigentlich eher Hütten – umstanden den Kai. Eine Straße
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