Die kalte Koenigin
Tageslicht bringt uns Ruhe«, antwortete er. »Unsere Stärke kehrt beim Einbruch der Nacht zurück. Priester wünschen sich, die Götter zu sein, denen sie dienen. Die Priester der Medhya verrieten sie, als sie dazu in der Lage waren. Sie vertraute ihnen zu sehr und baute zu den Sterblichen in dem Königreich, das sie begründet hatte, eine zu enge Bindung auf. Blind war sie gegenüber dem sterblichen Herz, das erbarmungsloser ist als das unsere. Priester streben nach Macht. Sie streben danach, den Platz der Götter einzunehmen. Und doch stimmen sie uns auch günstig, sie
regieren die Sterblichen bei Tageslicht, damit wir uns von ihnen emähren und dadurch gedeihen können.«
»Und ihr befindet euch hier in Sicherheit?«
Er nickte. »Sieh nach oben.« Er zeigte zu den Gebirgskämmen, die sich meilenweit über uns befanden, entlang an dem Rand der Öffnung zu dem hohlen Berg. Mehrere Vampyre flogen in einem Schwarm spiralförmig nach oben, indem einer dem anderen in die Nacht folgte. »Sterbliche haben versucht, hierher zu gelangen, doch sie alle stürzten bei dem Versuch in den Tod. Diesen Ort durch den Fluss von Miclan zu erreichen, bedeutet, einen Tod durch Ertrinken oder aber durch unsere Schwestern und Brüder des Gewässers zu riskieren. Dennoch versuchten viele, als sich die Plagen im Land ausbreiteten, hierher zu kommen, wegen der Reichtümer oder um mich zu vernichten. Doch kein Sterblicher hat unser Nest je lebend verlassen.«
Wir stiegen eine niedrige Treppe hinauf, die offenbar zu einem öffentlichen Gebäude führte. Zwei riesige schwarze Obelisken standen wie Wachtposten am Eingang. Auf ihnen waren uralte Inschriften dieser Vampyre zu erkennen. Hinter ihnen befand sich eine große Halle, die so wirkte, als hätte sie einst eine größere Zivilisation beherbergt. Tausende von Säulen stützten ihre Decke, fünfzehn Klafter oder mehr über uns. Während mich Nezahual durch Reihen von Säulen führte, erzählte er mir von den Sklaven, die in dem glasartigen Stein gearbeitet hatten, um die Stadt zu erbauen. »Es handelte sich bei ihnen um Eindringlinge aus dem Osten, die vor viertausend Jahren mit Schiffen hergekommen waren«, erklärte er. »Ihr Land war von ihren Göttern vernichtet worden, so suchten sie unsere
Heimat auf. Sie verfügten über großes Talent und Fleiß, und ihre Handwerker wussten, wie man aus den Felsen die Schönheit herausmeißelt.«
»Und ihr nährtet euch von ihnen.«
»Von einigen, ja. Andere befinden sich noch immer in der Stadt über uns, in dem Blut ihrer Nachkommen. Es waren die Zeiten eines großartigen Friedens für uns. Die Kunst florierte. Es gab keine Auseinandersetzungen zwischen meinen Brüdern und mir. Es war ein goldenes Zeitalter. Dies ist nun vorbei. Man kann nicht dorthin zurückkehren.«
Er führte mich durch eine Reihe von engen Wegen zurück, und wir kamen in einen Hof, der auf drei Seiten von hohen schwarzen Wänden umgeben war. Wir spiegelten uns in dem dunklen Glas. Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen Felsvorsprung hoch über uns an der Obsidianwand. Dort befand sich ein Höhleneingang, an dessen zerfallenden Rändern Schädel aufgereiht lagen. »Siehst du? Da befindet sich das ursprüngliche Nest. Und dort wurde ich geboren.«
In der Luft lag ein leichter Nebel, als wäre die Gischt eines weiteren Wasserfalles nicht weit.
Goldene Schalen mit Gittern darauf waren in den zermahlenen Bimsstein gestellt worden, aus dem der Boden des Hofes bestand. In ihnen verbrannten einige Pilzwurzeln und gaben einen Geruch ab, der mich an gebratenes Wildschwein erinnerte. Dünne Rauchkringel stiegen langsam nach oben, drehten sich fast unmerklich und lösten sich in Luft auf.
In der Mitte des Hofes stand ein monumentaler Sarkophag auf einer Treppe. Er bestand aus einem gelbweißen Stein, der so wirkte, als handelte es sich dabei um altes Elfenbein. Es wirkte unpassend, dass der Sarkophag mit Ketten und Seilen
umwickelt war, als sollte etwas oder jemand davon abgehalten werden, daraus zu fliehen.
»Er besteht aus Knochen«, erklärte Nezahual. »Seit Jahren wird er mit Säuren aus dem Saft der Copal -Pflanze geschmeidig gehalten. Er ist Ixtar heilig. Vor langer Zeit schnitzten unsere besten Handwerker die Figuren, die auf ihm zu erkennen sind.«
Als ich die Stufen zu dem Sarkophag hinaufstieg, sah ich, dass er mit Reliefs und Inschriften bedeckt war. Da waren die Gestalten der Großen Schlange und jene von Ixtar, der Fledermausmutter, zu sehen. Außerdem
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