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Die kalte Koenigin

Die kalte Koenigin

Titel: Die kalte Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Clegg
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hervorgebracht nicht von den Göttern, sondern von Alchimisten und Architekten von Fleisch und Blut, welche die Essenzen von Mensch und Bestie in einzelnen Wesen zusammenbrachten; ich beobachtete, wie jene an sich namenlosen Energien, die viele Leute als Zufall, Glück, Unglück, Furcht, Grauen und Trägheit bezeichnen, Gestalt annahmen und sich erhoben, um Nationen zu vernichten und jene emporzuheben, die die Massenvernichtung gesamter Völker von Sterblichen herbeiführen würden, und zwar in einem Ausmaß, das deutlich über alles hinausging, was ich in den Schlachten der Kreuzzüge erlebt hatte. Ich erblickte Drachen, die aus Silber bestanden und über den Himmel glitten, wie ich es viele Jahrhunderte lang nicht mehr sehen sollte. Aus ihren Schnauzen schoss Feuer hervor und verbrannte bereits versengtes Land. Aus ihren Schößen ließen sie ihre Nachkommen auf die Städte der Welt fallen, die in großen, sich blähenden Wolken explodierten, welche dermaßen gegen die Erde stießen, dass jedes Lebewesen in Flammen aufging und zu Asche zerfiel. Ich erblickte die Häute von Menschen und Vampyren, die von den geschwärzten Bäumen eines Waldes herabhingen, Häute, die so geschickt
abgezogen worden waren, dass es schien, als könnte man sie anziehen und als Kostüme tragen. Es kam mir so vor, als ob mich ein angreifender Bulle auf seinem Rücken trüge, durch die Schichten von Visionen hindurch, indem er rasch voranstürmte.
    Doch als die Membran dieser jenseitigen Welt zerbrach und sich teilte – als Netz in einem Netz in einem Netz -, gelangte ich schließlich in jene verlassene Halle der Toten. Ich stand nun auf festem Boden. Unter meinen Füßen erstreckte sich ein Marmorfußboden. Überall um mich herum waren Statuen von Göttern und Göttinnen zu sehen, deren Gestalten und Gesichtszüge nach dem Ebenbild von Sterblichen geformt waren. Hier waren die Götter der Kanaaniter zu bestaunen, dort die der Hurriten, und dort drüben die ägyptischen Götter. Während ich mich durch diese Halle bewegte und von dem Klang widerhallender Schritte ungesehener Beobachter um mich herum begleitet wurde, begann ich allmählich das Muster der hier aufgestellten Skulpturen zu erkennen. Die Gesichter der Götter veränderten sich, wie auch die Flügel, die Geweihe, die Bärte, der Kopfschmuck oder die heiligen Insignien, die sie hielten. Ich bemerkte, dass es sich bei ihnen allen um die gleichen Götter handelte, die herausgeputzt waren, um ihren sterblichen Anhängerinnen und Anhängern zu gefallen. Dort war die Muttergöttin mit ihrem Säugling auf dem Schoß zu sehen; da gab es den strengen, richtenden Vater mit seinem wallenden Bart; da war der ewige Jüngling mit Bogen, Schwert und dem Hirschgeweih; und dort erblickte ich auch die ewige Jungfrau mit ihren schweren Brüsten und dem Halbmond auf der Stirn; da gab es den Königsgott mit seinem geflochtenen Bart und seinen gefiederten Flügeln;
dort stand ein Ochsengott; und hier war eine Wolfsgöttin, die ihre Zwillinge säugte.
    Als ich zum Ende der Halle der Toten kam, stellte ich fest, dass dort zwei große Statuen standen, die den Eingang zu einem gewölbten Torbogen versperrten. Der Torbogen verfügte über eine Inschrift, die in einer Sprache verfasst war, die mir unbekannt war. Doch als ich sie mir ansah und ihre sonderbaren Schriftzeichen zu entschlüsseln versuchte, schlängelte sie sich hin und her und wand sich wie Schlangen, bis dort auch meine eigene Sprache zu lesen war. Die Schrift besagte: DRINNEN – TOD. DRAUSSEN – SCHRECKEN.
    Ich wich von der Türschwelle zurück. Stattdessen wandte ich meine Aufmerksamkeit den Statuen zu, die auf beiden Seiten davon standen.
    Sie saßen auf Thronen. Diese Statuen schienen aus Knochen geschnitzt und mit goldenen und scharlachroten Girlanden geschmückt. Ihre Beine waren stämmig und nackt, und der Knochen war so abgeschliffen worden, dass er wie glänzendes Elfenbein aussah. An ihren Zehen steckten Bemsteinringe, und auf ihren muskulösen Armen fand ich die Rebe jener Blume, die »Gift der Schlange«, »Fleisch der Medhya« oder sogar »Schleier« genannt wurde.
    Ich erklomm die Statue der Göttin und stieg auf ihren Schoß. Dann erreichte ich die Schleier, die ihr Gesicht bedeckten, und zog sie zurück, um das Antlitz derer zu sehen, die diejenigen von meiner Art erschaffen hatte und uns hasste, weil wir ihr das unsterbliche Blut gestohlen hatten. Aber je mehr ich diese Schleier öffnete, desto mehr Schleier schienen sich

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