Die kalte Koenigin
dort noch zu befinden. Als ich sie völlig zurückgezogen hatte, war die Welt zum Schleier der Göttin geworden und sie
die Dunkelheit in ihrer Mitte. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich hier um Medhya handelte. Diese Göttin war mir unbekannt.
Und aus dieser Dunkelheit erschien mir eine andere Frau – diejenige, die ich oftmals in meinen Visionen erblickte:
Pythia, deren Haut leuchtete; deren Augen so schwarz wie die Nacht waren; deren goldenes Haar sich in schlangenförmigen Flechten um ihre Schultern schlang; deren Brüste schwer waren, als befände sich Milch in ihnen; deren Hüften breit waren und die von den Schlangen der Erde umschlungen wurden, welche auf diese Weise ein Gewand aus irisierendem Grün und Schwarz formten, und die sich fortwährend bewegten und neu zusammensetzten, um Pythias blasse Nacktheit zu verbergen. Während ich zusah, tauchten die Schlangen aus ihrer Vaginal Öffnung auf, geboren aus ihrem Schoß, sich windend, als sie auf den Boden fielen und Pythias Hüften umschlangen, indem sie sich zu ihrem Hals hinaufschlängelten.
»Warum ist es Medhyas Wunsch, ihre Kinder zu töten?«, fragte ich Pythia.
Pythia nickte, als wollte sie mir zeigen, dass sie meine Frage verstand. Sie hielt ihre Hand in die Höhe: Auf der Handfläche war eine Schnittverletzung zu sehen, aus der tiefschwarzes Blut quoll. Dann drückte sie ihre Hand gegen meine Lippen, und ich kostete das reine Blut der Göttin. Und darin wurde ich in eine Vision von jenem Königreich Myrryd gerissen, in dem einst Medhya als unsterbliche Königin geherrscht hatte. Doch wie es in Träumen häufig der Fall ist, hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich hier überhaupt um Myrryd handelte, sondern um ein anderes Reich, das wunderbar und fremd war. Es verfügte über Stufenpyramiden mit Tausenden von Stufen, die
zu den flachen Spitzen führten. Und dort rissen Priester einer Jungfrau mit bronzefarbener Haut das Herz aus dem Leib.
Ich erwachte aus dieser Vision.
Sechs Mal träumte ich davon, und fünf Mal erklomm ich die Statue und erblickte Pythia, als sähe ich sie durch das trübe Wasser eines Moores hindurch.
Aber einmal, als ich den Schleier durchschritt, ging ich zu der anderen Statue, bei der es sich um eine männliche Figur handelte. Von dem Thron des Mannes setzten sich seine riesigen Flügel ab, die sorgfältig geschnitzt waren, und an seinen Händen erblickte ich gebogene Klauen. Seine Oberschenkel waren mit dicken Muskeln ausgestattet und zu seinen Füßen lagen die Schädel von Menschen. In seiner linken Hand hielt er eine Kugel aus tiefschwarzem Stein, der jedoch so lichtdurchlässig war wie Kristall. Mit seiner Rechten umfasste er ein Schwert, um das sich zwei Schlangen wanden. Und auf seinem Gesicht erblickte ich, als hätte ich sie zuvor nicht bemerkt, die goldene Maske der Gorgo, die Maske der Datbathani. Bei diesem Gott handelte es sich um die Große Schlange, die den Vampyren Wissen eingab und die Welt der Sterblichen vor der Durchquerung des Schleiers bewahrte.
Als ich die Goldmaske beiseite zog, erkannte ich, dass das Antlitz darunter keinerlei Gesichtszüge besaß – keine Augen, keine Nase, keine Lippen. Stattdessen war es mit vier Worten beschriftet: AUCH ICH BIN HIER.
Ich starrte diese Worte an und versuchte ihre Bedeutung zu erfassen.
Hier?, dachte ich. Hier, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen den Statuen der Götter, die nach dem Abbild der Sterblichen gemeißelt wurden, und dem Reich ihrer Wesen? Oder
bist du dort, hinter der Goldmaske der Gorgo? Oder dort in dem Königreich, das du in deiner rechten Hand hältst, oder der schwarzen Kugel in deiner linken?
Aber die Worte lösten sich auf, noch während ich sie betrachtete. Ich stand nun nicht länger auf dem Schoß einer großen Statue, sondern wurde durch die Membran des Schleiers hindurch in einen Wachzustand zurückgeholt.
Als ich in der Nacht erwachte, wiederholte ich in meinem Geiste wieder und wieder die Worte: »Auch ich bin hier.« Ich wollte sie noch weniger vergessen als die Worte über dem Torbogen. »Drinnen – Tod. Draußen – Schrecken.« Ich hatte das Gefühl, als wäre dies ein Rätsel, das ich nicht verstehen konnte.
Artephius, dessen Helm-Maske im Kerzenlicht schimmerte, hielt eine Kugel in seiner Hand. »Bist du schon wach, Falkner?«
Ich erkannte die Kugel – es war dieselbe, die dafür gesorgt hatte, dass Merod Al-Kamr nur um Haaresbreite der Auslöschung entgangen war, als er in seinem
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