Die kalte Koenigin
zwischen denen man spazierengehen konnte, und ein anderer war in Wahrheit überhaupt kein Garten, sondern wurde aufgrund der Mausoleen und Grabmale dieses königlichen Hofes und seiner Familie »Gruftgarten« genannt.
Um das Haus des Weißen Pferdes herum befand sich eine weitere Mauer. Jenseits von ihr war das Land sowohl durch die Erdbeben als auch durch harte Arbeit gerodet worden. Außerdem hatte man Marschen entwässert und Kanäle gegraben. Die Straßen, die sich zwischen den Türmen und den Händlerreihen entlangschlängelten, wölbten sich wie Brücken über das sumpfige Land, das unter ihnen lag. Die Kanäle, die von den Mauern ausgingen, flossen ebenfalls unter ihnen hindurch, indem gewölbte Strebepfeiler den Aufbau stützten. Unter den Straßen der Stadt flossen die Kanäle in Kreisen, die innerhalb von Kreisen aufeinander zuliefen – und am Ende zusammenkamen. Darüber erhoben sich die Trommeltürme, die vielen ähnelten, die ich in den fernen Kriegen für das Heilige Land gesehen hatte. Denn die Architekten dieser Stadt besaßen Kenntnis von uralten Orten und Methoden, von denen niemand in der Christenheit je gehört hatte.
Obgleich die Scheibe durch die Kreise symbolisiert wurde, die die Form der befestigten Stadt bestimmten, erhob sich noch immer das Kreuz der Christenheit über den Andachtsstätten. Bald würde ich erfahren, dass die Scheibe mittlerweile als Zeichen einer großen jungfräulichen Heiligen betrachtet wurde, deren Erscheinung seit Jahrhunderten in diesen Gebieten vorhergesagt worden war, wenn auch nicht genau so,
wie man sie in dem Plagentraum in den Schatten gesehen hatte. Aber Rom hatte nichts gegen die Pilger einzuwenden, die in jeder Jahreszeit herkamen, um die Illuminationsnächte zu erleben oder um geheilt zu werden. Auch die Bischöfe aus Frankreich und England zogen es vor, sich nicht gegen das auszusprechen, was andere als Ketzerei betrachten könnten, denn sie hatten ebenfalls von der Scheibe geträumt und die Jungfrau der Schatten erblickt. Auch sie hatten zugesehen, wie ihre Lieben, ihre Städte und ihre Dörfer durch die Plagen starben, die gesandt worden waren, um die Sünderinnen und Sünder der Welt ins Fegefeuer zu bringen. Könige aus anderen Ländern glaubten, dass es sich bei dieser Baronin um eine Verbündete handelte und dass ihre Priester in ihren weißen Roben einen großen Teil des Landes von seinen Ketzereien und Andersdenkenden befreiten, um die ganze Bretagne für die Erobemng zu öffnen. Denn wenngleich England auch häufig Anspruch auf dieses Land erhoben hatte, so hatten doch die Normandie, Anjou und Maine sowie die westlichen und südlichen Teile der Bretagne selbst im Laufe der Jahre Pläne geschmiedet, sich diese kleine, aber mächtige Baronie einzuverleiben. Immerhin erkannte jede dieser Mächte die Kräfte dieser lebenden Heiligen, selbst wenn sie Zauberei vermuteten. Eine neue Sprache entstand in der Baronie – eine Mischung aus Englisch, Französisch und einer sogar noch älteren Sprache, die im Flüsterton von den Priestern des Landes gesprochen wurde.
Ich vernahm die Stimme von Calyx, als ich all dies sah. Also war sie es, die mir diese Vision geschickt hatte. Sie flüsterte: »Solange die Reiche der Welt eingefrorene Häfen besitzen, in denen keine Schiffe fahren können; solange die Winter
gleich auf den August folgen und beinahe bis zum Hochsommer dauern; solange die Bedrohung durch die Plage und den Weltuntergang den Geist all jener vernebelt, die davon berührt wurden – so lange ist die Baronie vor einem Angriff sicher, obwohl schon früh in den Plagenjahren einige versuchten, sie zu belagern. Aber die meisten von ihnen starben am Fieber und am Wahnsinn.«
Warum zeigst du mir diese Dinge?, fragte ich sie. Warum schickst du mich hierher?
Aber die Stimme kehrte nicht zurück, und da stand ich nun in luftiger Höhe und blickte nach unten.
Doch mein Blick wurde auf einen runden Turm gelenkt. Ich bewegte mich so schnell wie ein Rabe, der auf ein schmales Fenster zusteuert, das vor dem eisigen Wind durch Bretter und dicke Wandteppiche geschützt ist. Ich flog jedoch durch sie alle hindurch und erkannte, dass ich mich in einem Schlafzimmer befand.
Das Himmelbett war zugezogen. Doch ich schlüpfte hinein und erblickte ein schlafendes Mädchen von etwa zwölf Jahren.
Ich erkannte mein eigenes Gesicht in dem ihren, ebenso wie Alienoras Gesicht.
Ich wusste, um wen es sich bei diesem Kind handelte.
Es war meine Tochter.
Und dann wurde ich
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