Die kalte Koenigin
aus der Vision herausgerissen und wieder in meine Gruft in den Grabhügeltiefen von Taranis-Hir gezogen.
10
Jede Nacht versuchte ich den Lauf des Stromes zu finden, um so Ewen in dem Raum zu spüren oder um zu fühlen, ob Kiya sich in meiner Nähe befand. Doch es schien, als existierte der Strom kaum. Ich spürte einen ganz leichten Zug an dem entlang, was einst seine Strömung gewesen war.
Andere aus diesem Schloss kamen in der Nacht, um mich zu betrachten. Daher ließ der Wächter den Deckel meines Sarges häufig offen stehen – die silbernen Fesseln reichten aus, um mich davon abzuhalten, auch nur den Kopf zu heben. Ich hatte begonnen zu glauben, dass ich dort einzig und allein aus Gründen der Neuheit ausgestellt wurde. Eines Abends, gleich nach Sonnenuntergang, kamen mehrere junge Männer und Damen an meinen Sarg, die elegant herausgeputzt waren und Edelsteine und Pelze trugen. Ich beobachtete, wie sie mich beobachteten. Dabei schnappte ich aus ihren Worten auf, dass es sich bei ihnen um Adlige handelte, die aus dem Süden und Westen hergereist waren. Einige von ihnen sprachen Englisch, andere Französisch, und wieder andere Spanisch. Es waren Damen und Herren, Prinzen und Prinzessinnen, die von den geflügelten Dämonen gehört hatten, die von der großen Macht Enoras und ihres Rates dort festgehalten wurden. Sie rühmten Enora oft, sprachen von ihrer Bedeutsamkeit und flüsterten von dem Weltuntergang, der der Menschheit bevorstünde. Außerdem hörte ich Neuigkeiten von den Königen, die der Plage anheimgefallen waren; von den Schneefällen, die die Straßen bedeckt hatten; von den Ländern, die
von jenen Kriegen zerrissen wurden, die von Erben über sie gebracht worden waren; und von Angriffen an der Küstenlinie entlang, wo »das Eis dünn war«, obwohl ich zu jener Zeit die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht verstand.
Dann trafen die Priester, Mönche und Nonnen ein, die alle ihre Kreuze und Rosenkränze umklammerten und Gebein-Reliquien küssten, die aus den Gräbern von Heiligen gestohlen worden waren, während sie mich in lateinischer Sprache verfluchten. Da ihren Worten zu entnehmen war, dass sich noch andere in dem Raum befanden, war ich mir sicher, dass Ewen nicht weit von mir läge; und ich hoffte, dass Kiya ebenfalls dort wäre.
Priester sprachen davon, dass die Hölle ihre Dämonen verlöre, und die alten Mönche erzählten von meiner Mutter, die wegen Hexerei und dem Mord an einem ungetauften Kind verbrannt worden war. Mehrere Nonnen, die aus Toulouse gekommen waren, raunten sich gegenseitig etwas über die Buße zu, die benötigt würde, um die Erde von Dämonen zu befreien. Während die anderen nicht hinsahen, griff ein junger Mönch unter meinen Lumpen nach meinen Lenden, als wollte er sich selbst davon überzeugen, dass Dämonen wahrhaftig erschreckende Fortpflanzungsorgane besäßen.
Eines Nachts, nur wenige Stunden vor Tagesanbruch, erschien eine Besucherin allein. Sie war in einen Umhang gehüllt, der mit einer Kapuze versehen war, und trug in ihren Armen eine Gabe für mich: große Blasen, die mit frischem Blut gefüllt waren.
Sie roch nach Wolfsdistel und Mooskraut, zwei Kräutern, die ich nur im Großen Wald je zu Gesicht bekommen hatte, bei
den Frauen, die die Alten Bräuche befolgten. Zwar konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie schien in der Lage zu sein, durch die Kleidung zu blicken, die ihre Züge verbarg, als sie sich über mein Gesicht beugte. Ich erkannte sie, bevor ich sie sah. Es war die Hure, die für mich getanzt hatte. Das Wechselbalg aus dem Walde.
Calyx.
Sie entfernte die Silberhalsfessel von meinem Hals.
Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte meine Kehle, als sie dies tat, so als ob sie ein Stück Fleisch aus meiner Speiseröhre entfernt und mir auf diese Weise wieder das Atmen ermöglicht hätte. Ich bemerkte, dass ich wieder in der Lage war zu sprechen, wenn meine Stimme auch schwach und heiser klang. »Vielen Dank. Ich benötige dieses Blut nicht. Bitte gib es anderen, die heute Nacht hier sind, auch wenn ich sie nicht sehen kann.«
Sie nickte, und ich hörte, wie sie sich durch den Raum bewegte. Als sie mehrere Minuten später zurückkehrte, sagte sie: »Du musst hier bleiben.«
»Warum hilfst du uns?«
»Pst«, entgegnete sie. »Sprich nicht so viel.«
»Sind andere hier, die wie ich sind?«
Sie nickte.
»Ein Jüngling?«
Erneut nickte sie.
»Eine Dame?«
Sie nickte. »Und noch andere.«
»Wie viele?«
»Sechs.«
»Hilf uns
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