Die kalte Koenigin
imstande, meine Stimme zu mehr als einem Flüstem zu erheben. Das Feuer an meinem Rücken hatte nicht nachgelassen, und in meiner Seelenqual hatte ich auch Ewens Gesicht nicht vergessen – ebenso wenig wie die Male und Narben an seinem Körper. Oder das Schicksal, zu dem wir beide verdammt waren.
»In Sicherheit. Vorerst. Aber die Zeit läuft ab«, wisperte sie, und diese Worte waren die letzten, die sie sprach, bevor sie mich verließ.
»Befreie meinen Freund«, flüsterte ich. »Du... musst es tun.«
Doch dann überwältigte mich der Schmerz, und ich konnte nicht mehr sprechen.
Als ich bei Tagesanbruch die Augen schloss, spürte ich ein sanftes Ziehen des Stromes. Dieser Zug wurde stärker. Er schien von mir auszugehen. In seinem Inneren versuchte ich Ewens Geist zu erreichen, doch konnte ich ihn nicht finden. Aber ich spürte andere um mich herum. Ich meinte vier Vampyre zu fühlen, welche von denjenigen, die in dem Schloss gefangen waren. Allerdings war ich mir nicht sicher, da keiner von ihnen in der Lage zu sein schien, mich seinerseits
durch den Strom zu erreichen. Dennoch spürte ich sie, und ich fühlte auch Ewen, der in meiner Nähe schlief. Ich träumte von Pythia, Priesterin von Alkemara und treulose Tochter Merods. Ich sah sie so, wie sie gewesen war, als sie meine Seele als Geisel genommen und ihre Lippen auf die meinen gepresst hatte, so dass der Atem der Ewigkeit zwischen uns weitergegeben werden konnte.
Und dennoch spürte ich selbst in meinem Schlaf noch irgendeine andere Präsenz, als schwebten die Myrrydanai über meinem Sarg, oder auch Alienora selbst in ihrem neuen Gewand als Enora, Baronin von Taranis-Hir. Erneut fühlte es sich so an, als hätte eine Fliege einen Spinnwebfaden berührt und ihre Schwingung auf den seidenen Faden übertragen.
Es war das Schicksal selbst, durch ein Kind dargebracht.
9
Ich flog wie in einem Traum, konnte aber fühlen, dass ich mich nicht in einem Traum befand. Ein Wesen irgendeiner Art lenkte meinen Blick, meine Bewegung. Bist du es, Merod?, fragte ich die Leere um mich herum. Bist du es, der mich aus meinem Körper aufwärts zieht, als wäre ich ein Rabe, der über Taranis-Hir fliegt? Oder ist es der Schmerz durch die Folter, die mich so an den Rand des Schleiers drängt, dass ich im Geist eine Reise unternehme, während das vampyrische Fleisch die Wunden der Nacht heilen lässt?
Oder schickt mich Calyx selbst, mit ihrem betörenden Tanz, mit ihrem plagendurchtränhten Fleisch, in diesen Traum, führt mich an den weißen Türmen und den Kanälen entlang? Welche Kräfte
besaß diese Jungfrau, die ihr durch ihre Herkunft, durch die Waldgötter oder durch die Plage selbst gegeben worden waren?
Ich erblickte ganz Taranis-Hir unter mir. Die befestigte Stadt war gebaut worden, indem sowohl auf Schönheit als auch auf Zwecke Wert gelegt worden war. Ihre Türme waren groß und wunderschön, die hohen Mauern verbargen die Bewohnerinnen und Bewohner gut vor Außenstehenden. Obwohl sie Wunder der Technik enthielt, die ihr Architekt aus dem Osten mitgebracht hatte, kannten nur wenige die Art ihrer Mechanik.
Sie war in jenen furchtbaren ersten Jahren der Plage als Festung erbaut worden, um die Kranken und jene mit dem Akkaditenmal draußen zu halten. Dann hatte der Alchimist Artephius die Türme der Stadt in einer prächtigeren, beinahe türkischen Bauart ausgearbeitet, mit großen Fialen – gotischen Türmchen – als Spitzen.
Innerhalb der Stadt, fast in ihrem Zentrum, befand sich die ursprünglich auf einem Erdhügel erbaute Burg des alten Baronsschlosses, und um sie herum der Burgfried des Hauses des Weißen Pferdes, in dem das Burgverlies zu finden war. Im Unterschied zu anderen Städten seiner Zeit war diese Stadt nicht zu dem Zweck gebaut worden, eine große Einwohnerschaft zu beherbergen, sondern in einer Reihe aus konzentrischen Kreisen erbaut und mit Türmen und Mauern geschmückt, um die Form der Scheibe zu ehren. Der Burgfried war auf dem Hügel errichtet worden, der die ursprüngliche befestigte Hügelanlage enthalten hatte, auf die die Familie Whithors eine Generation zuvor Anspruch erhoben hatte. Das alte Schloss blieb zwar bestehen, war aber von dem neuen übernommen worden, wie eine alte Eiche von einer dichten Überwuchemng übernommen wird, als Gefangene des erobernden Rankengewächses.
Vier Gärten erstreckten sich neben dem Burgfried. In zweien von ihnen gab es zahlreiche Blumen und Teiche. Einer bestand aus einer Reihe von Hecken,
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