Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
Russisch auf dem College studiert«, bemerkte die Lexikographin. »Und er spricht es mit polnischem Akzent, was kein Wunder ist.«
    »Wenn wir sein Polnisch aufpolieren lassen«, sagte Maggie Poole, »könnten wir doch gleichzeitig was für sein Russisch tun.«
    »Okay, fassen wir zusammen«, sagte der Vorsitzende. »Wir haben also einen polnischen Staatsangehörigen, der wie die meisten Polen gut Russisch kann. Jetzt brauchen wir noch einen Namen.«
    »Nehmen wir diesmal einen, der nicht so ausgefallen ist.«
    »Leichter gesagt als getan.«
    »Wie wär’s mit Franz Josef als Vorname?«
    »Wer ist denn das Vorbild, der österreichische Kaiser oder Haydn?«
    »Beide.«
    »Wie wär’s dann schlicht und ergreifend mit Josef?«, schlug Maggie Poole vor.
    »Halb Polen heißt Josef.«
    »Deshalb ja gerade«, konterte sie.
    »Da haben Sie aber noch ganz anders argumentiert, als wir uns für den Namen Dante Pippen entschieden haben. Da haben Sie nämlich gesagt, niemand, der sich eine Liste mit Namen anschaut, würde hinter Dante Pippen einen Decknamen vermuten, gerade weil er so ungewöhnlich ist.«
    Maggie Poole ließ sich nicht beirren. »Beständigkeit«, sagte sie eingeschnappt, »ist die letzte Zuflucht der Einfallslosen. Das ist von Oscar Wilde, falls es Sie interessiert.«
    »Ich lese gerade mal wieder Kafkas Amerika. «
    »Du liebe Güte! Sie wollen doch wohl nicht Kafka als Nachnamen vorschlagen?«
    »Ich wollte eine polnisch klingende Variante vorschlagen: Kafkor.«
    »Kafkor, Josef. Gar nicht schlecht. Schön kurz, leicht zu merken, finde ich. Was meinen Sie, Lincoln?«
    Lincoln Dittmann, der am Fenster des Besprechungsraumes im dritten Stock stand und auf den Parkplatz von Langley mit seinen unzähligen Autos blickte, drehte sich zu den Mitgliedern des Legendenausschusses um. »Eine Variante des Namens Kafka finde ich durchaus passend.«
    »Was in aller Welt meinen Sie mit passend?«
    »Kafkas Geschichten handeln von verängstigten Menschen, die in einer albtraumhaften Welt ums Überleben ringen, und so ungefähr sieht sich auch die Figur dieser neuen Legende.«
    »Sie kennen sich offenbar gut mit Kafka aus«, sagte Maggie Poole.
    »Wie wär’s, wenn er sich intensiv mit Kafka an der Uni in Krakau beschäftigt hätte?«, schlug jemand vor.
    »Er könnte im Sommer als Reiseführer in Auschwitz gejobbt haben.«
    »Über unsere Kontakte in Warschau könnten wir ihm eine Stelle im polnischen Fremdenverkehrsbüro in Moskau verschaffen. Von dort müsste er einigermaßen unauffällig Kontakt zur DDO-Zielperson aufnehmen können.«
    »Die Frage ist, wo treibt sich dieser Samat so rum, wenn er in Moskau ist.«
    »Das ist Crystal Quests Revier«, sagte Lincoln.

1997: MARTIN ODUM NIMMT DEN SIBIRISCHEN NACHTFALTER IN AUGENSCHEIN
    Das Telefon am anderen Ende der Leitung hatte schon so oft geklingelt, dass Martin nicht mehr mitzählte. Er beschloss, es – falls nötig – den ganzen Abend, die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag klingeln zu lassen. Irgendwann musste sie ja nach Hause kommen. Eine Frau, die ein schlafendes Kind im Arm trug, klopfte heftig mit einer Münze gegen die Scheibe und hielt wütend das Handgelenk hoch, damit Martin die Uhr sah. Er drehte ihr den Rücken zu und murrte: »Such dir ’ne andere Zelle – die hier hab ich gekauft.«
    Kopfschüttelnd stürmte die Frau davon. In Martins Ohr klingelte das Telefon mit solcher Regelmäßigkeit weiter, dass er den Klang schon nicht mehr wahrnahm. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er von den vorherigen Telefonaten in Erinnerung hatte. Zu seiner Verwunderung konnte er ihre Stimme im Kopf hören, als würde sie neben ihm stehen. Sie sagte: Wenn die Antworten nicht zu finden sind, musst du lernen, mit den Fragen zu leben.
    Dann wurde ihm bewusst, dass das Telefon am anderen Ende nicht mehr klingelte. Ein menschliches Wesen atmete laut in die Sprechmuschel.
    »Stella?«
    »Martin, bist du das?«, fragte eine Stimme, die sich ganz wie Stellas anhörte.
    Martin merkte verblüfft, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, diese Stimme zu hören, wie sehr er sich gewünscht hatte, mit dem einzigen Menschen auf Erden zu sprechen, den es nicht abschreckte, dass er nicht genau wusste, wer er war, und der offenbar mit jeder Version klarkam, die er von sich bot. Plötzlich spürte er, wie sich ein vergessenes Verlangen in ihm regte: Er brannte darauf, das Nachtfalter-Tattoo unter ihrer Brust zu sehen.
    »Stella, ich bin’s. Martin.«
    »Gott, Martin. Mensch!

Weitere Kostenlose Bücher