Die kalte Legende
›Kanonenfutter‹ genannt.«
Der Ägypter wiederholte den Titel, um sicherzugehen, dass er ihn richtig verstanden hatte. Dann sagte er leise etwas auf Arabisch zu dem dicken Jungen, der an dem Tisch in der Nische saß und ein Puzzle machte. Der Junge trug ein Schulterhalfter mit einer Plastikpistole darin und kaute auf einem Kaugummi, den er jedes Mal aufblies, wenn ein Puzzleteilchen passte. Jetzt sprang er auf und lief aus dem Raum. Der Ägypter folgte ihm. Lincoln hörte ihre Schritte auf der Treppe des baufälligen Gebäudes, als der Junge nach unten und Daoud eine Etage höher ging. Lincoln vermutete, dass der Ägypter mit dem Ausland telefonierte. Wahrscheinlich setzte er seine Leute darauf an, Dittmanns Legende zu überprüfen.
Die Kollegen in Langley hatten für alle Fälle vorgesorgt. Wenn jemand in der Triester Klinik herumschnüffelte, würde er auf eine Akte über einen Lincoln Dittmann stoßen, der drei Tage lang von einem Knochenspezialisten behandelt worden war und am Morgen seiner Entlassung in bar bezahlt hatte. Auch für das Buch »Kanonenfutter« war eine Spur gelegt worden. Der Kontaktmann des Ägypters würde im Publishers Weekly lesen, dass das Buch 1990 erschienen war. Wenn er weiter suchte, würde er auf zwei Rezensionen stoßen, in der Studentenzeitung eines Junior College in Virginia und in einer vierteljährlich in Richmond, Virginia, erscheinenden historischen Fachzeitschrift. Erstere würde den eigenen Dozenten über den grünen Klee loben, Letztere würde den Autor, Lincoln Dittmann, bezichtigen, große Teile seines Buches aus einer Dissertation von 1932 plagiiert zu haben. Ein kleiner Artikel in einer Richmonder Zeitung würde den Vorwurf wiederholen und berichten, dass ein wissenschaftlicher Ausschuss die Dissertation und Dittmanns Buch geprüft und festgestellt habe, dass ganze Passagen übereinstimmten.
Des Weiteren hieß es in dem Artikel, Lincoln Dittmann habe seinen Lehrauftrag an einem Junior College verloren. Obwohl die Verkaufszahlen des Buches niedrig gewesen waren, bevor es vom Markt genommen wurde, ließe sich, wenn man gründlich genug suchte, das eine oder andere Exemplar der ersten und einzigen Auflage in irgendeinem Antiquariat auftreiben. Hinten auf der Umschlagklappe würde ein Foto von Dittmann zu sehen sein, mit einer Schimmelpenninck zwischen den Lippen und einer kurzen Biographie im Klappentext: Geboren und aufgewachsen in Pennsylvania, Begeisterung für den amerikanischen Bürgerkrieg von Kindesbeinen an, als er mit seinem Vater einige Schlachtfelder besuchte, Experte für die Schlacht von Fredericksburg, derzeit Dozent an einem Junior College in Virginia.
Während er auf die Rückkehr des Ägypters wartete, steckte Lincoln sich eine Schimmelpenninck aus der Metalldose in seiner Jackentasche an und ließ den Rauch durch die Nase strömen. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte er höflich.
»Rauchen«, erwiderte Leroy, »ist Gift für die Lungen. Sie sollten damit aufhören.«
»Das Problem ist«, sagte Lincoln, »um mit dem Rauchen aufzuhören, muss man jemand anderer werden. Ich hab’s mal versucht. Radikal. Hat aber nicht hingehauen.«
Nach einer Weile kam der Ägypter zurück und setzte sich auf den Holzstuhl, der schräg zum Sofa stand. »Erzählen Sie mir, was Sie in Kroatien gemacht haben«, forderte er Lincoln auf.
Kroatien war Crystal Quests Idee gewesen. Trotz ihres herrischen Wesens war sie von der alten Schule: Sie fand, eine überzeugende Legende brauche mehr als bloß eine Papierspur. »Wenn er Waffenhändler sein soll«, so ihr Argument, als sie Lincoln mit in den sechsten Stock von Langley genommen hatte, um den Oberboss dazu zu bringen, die Operation abzusegnen, »dann muss er auch ein paar echte Geschäfte abgewickelt haben, die sich von der Gegenseite nachprüfen lassen.«
»Wollen Sie damit vorschlagen, er soll richtig im Waffengeschäft mitmischen?«
»Jawohl, Sir, das will ich.«
»An wen soll er verkaufen?«, fragte der CIA-Chef, dem sichtlich unwohl war hei der Vorstellung, dass einer seiner Agenten sich als tatsächlicher Waffenhändler Glaubwürdigkeit verschaffte.
»Er kauft von den Sowjets, die zurzeit ihre Arsenale in Ostdeutschland verhökern, und beliefert damit die Bosnier. Die Politik hat im Augenblick eine bosnienfreundliche Tendenz, die Überwachungskommissare im Kongress werden uns also das Leben nicht allzu schwer machen, wenn sie von der Sache Wind bekommen, was gar nicht passieren wird, wenn wir aufpassen.
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