Die kalte Nacht des Hasses
ihrem wahren Vater. Sie hatte nur einmal ein Foto von ihm gesehen, das war alles, aber ihre Mama hatte ihr schreckliche Geschichten von seinem furchtbaren Jähzorn und den trunkenen Wutausbrüchen erzählt. Ihre Hände zitterten und ihr Magen verkrampfte sich, als sie und die Sozialarbeiterin das Flugzeug verließen und den Flughafen betraten. Und dann sah sie ihn. Er sah ganz ähnlich aus wie sie, und er stand neben einer blonden Frau und einem kleinen, vielleicht acht Jahre alten Jungen. Der kleine Junge hielt ein Schild, auf dem stand: Willkommen zu Hause. Wir lieben dich. Daneben waren ein Regenbogen und jede Menge Smileys gemalt.
Der Mann trat vor und sah auf sie herunter. Er lächelte und sagte: »Ich habe so viele Jahre auf diesen Augenblick gewartet. Ich bin so froh, dass du hier bist.«
Die Ältere starrte ihn bloß an, sie wusste nicht, was sie sagen oder denken sollte. »Danke, schätze ich.«
Der Mann lachte und stellte ihr seine Frau und seinen Sohn vor. Die Sozialarbeiterin setzte sich zu ihnen und berichtete ihnen ausführlich über alle nötigen Vorgänge, aber in einer Stunde musste sie zurückfliegen, also verabschiedete sie sich bei der Älteren. »Es wird dir gut gehen. Ich weiß, dass du wahrscheinlich Todesangst hast, aber wir haben sie wirklich gründlich überprüft und sie werden beide gut zu dir sein. Trotzdem, hier ist meine Visitenkarte mit meiner Handynummer, falls du je Hilfe brauchst oder reden willst. Schaffst du das?«
»Ich denke schon.«
Das Mädchen nahm die Karte und hörte zu, während ihr Vater erzählte, wo sie jetzt wohnten, und dass sie ihr eigenes Zimmer haben würde. Sie stiegen alle in seinen Mercedes und fuhren die Küste hinauf zu seinem Haus. Sie fühlte sich komisch, als wäre es ein eigenartiger Traum, aber sie hatte keine Angst. Sie wusste bloß nicht, was sie sagen oder tun sollte, wie sie sich verhalten sollte, und sie vermisste den Jungen ganz schrecklich.
Sie aßen draußen auf einem mit Fliegengitter geschützten Patio, den sie als »Florida-Zimmer« bezeichneten, und in dem sich auch ein Swimmingpool befand, der allerdings nicht so groß war wie der des Jungen. Sie saß auf einem gepolsterten Terrassenstuhl und sah zu, wie ihr kleiner Halbbruder eine Taucherbrille aufsetzte und nach Centstücken tauchte, die ihr Papa ins Wasser warf. Sie lächelte, war immer noch überwältigt, und hätte am liebsten geweint, weil sie diese Leute gar nicht kannte und nun bei ihnen leben musste.
Nach einer Weile brachte die Mutter den kleinen Jungen ins Bett und die Ältere saß auf ihrem Stuhl und schaute in den großen, grasbewachsenen Garten. Ihr Vater kam zu ihr nach draußen und setzte sich neben sie. Er war sehr höflich.
»Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?«
Sie schüttelte den Kopf. Er brachte ihr eine eiskalte Dose Pepsi, aber er hielt einen Cocktail in der Hand und sie fragte sich, ob er nun stundenlang hier sitzen und sich betrinken würde, wie ihr Stiefvater es getan hatte. Aber er trank bloß die Hälfte davon und stellte ihn dann auf den Tisch zwischen ihnen.
»Ich wollte dir sagen, dass ich nach dir gesucht habe. Jahrelang habe ich überall gesucht, aber deine Mutter hat dich so weit weggeschafft, dass ich dich nicht finden konnte.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich habe Privatdetektive engagiert, mehrere, aber du schienst einfach verschwunden zu sein.«
»Mama hat gesagt, du hättest wieder geheiratet und wolltest mich nicht.«
»Sie hat gelogen. Ich habe vom Gericht in Florida das Sorgerecht bekommen, deswegen ist sie mit dir geflohen.« Er schwieg ein paar Minuten, dann sagte er: »Ich weiß, dass es schwer für dich sein muss. Sie haben mir erzählt, du seist glücklich bei deinen Pflegeeltern gewesen.«
»Ja. Ich liebe sie und ihre Kinder.«
»Ich will nicht, dass du unglücklich bist, aber ich brauche die Chance, dich kennenzulernen. Ich habe all die Jahre verpasst, in denen du groß geworden bist, und sieh dich jetzt an. Du bist nun eine junge Frau, und eine sehr hübsche dazu.«
Sie schaute hoch zu ihm und sah die Tränen in seinen Augen. Er meinte es ernst, das konnte sie spüren. Sie war erschrocken.
»Ich habe mich immer gefragt, warum du mich nicht haben wolltest.«
»Ich wollte dich haben. Bitte, glaub mir das. Ich kann dir die ganzen Berichte meiner Ermittler zeigen, aber sie konnten nie eine Spur von dir finden. Deswegen bin ich hier geblieben, statt nach Europa zu gehen. Es ist ein Wunder, dass die Sozialarbeiter zwei und zwei
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